Zweite Begegnung

Wieder lädt Christiane zur ABC-Etüden-Runde. Die jahreszeitlich passenden Wörter spendete diese Woche Sandra Matteotti.

Laterne

herbstfarbenbunt

loslassen

die Illustrationen wie immer Ludwig Zeidler.

Ich habe diese Woche Christianes Wunsch erfüllt und eine Fortsetzung zur letztwöchigen  Etüde Tag der Roten Sonne geschrieben.

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In der „Zweibrückener Laterne“ fühlte sie sich auf Anhieb wohl, der Verkaufsraum war herbstfarbenbunt dekoriert ohne „geschmackvoll“ wie ein Abklatsch der großen Ketten zu wirken.

„So sieht man sich also nach so vielen Jahren wieder“, sagte sie affig lächelnd und kam sich dabei vor wie eine schlechte Kopie. Die verdutzte Buchhändlerin begriff nur stockend, dass sie tatsächlich vor Jahrzehnten in der selben Realschulklasse gesessen hatten und fing dann unvermittelt an zu weinen.

„Warst du etwa die mit dem Bruder mit Down-Syndrom?“

Sie nickte, ihre Zunge fühlte sich pelzig an.

„Wir haben ihn immer geärgert. Vor fünfzehn Jahren dann bekam ich selbst eine Tochter mit Down-Syndrom und sie starb an ihrem Herzfehler. Ewig lange habe ich ihren Tod als Strafe für meinen Spott empfunden. Als ich deine liebevollen Bücher fand, konnte ich endlich diesen sinnlosen, zerstörerischen Gedanken loslassen und jetzt erst  begreife ich, dass ausgerechnet du …“

„Warum neigen wir ein Leben lang zu dem Glauben, die Welt ließe sich von unseren Kinderflüchen regieren“, wollte sie sich selbst zitieren, aber mit dem Kloß im Hals reichte es nur für eine stumme Umarmung.

Dabei sein kostet extra

Aus dem Kindergarten geflogen. Nach gerade mal drei Monaten. Von einem Integrationsplatz. Wegen „Fremd- und Eigengefährdung“. Mit drei Jahren.

Das können wir nicht leisten!“, sagt die Kitaleitung. Das ist das jüngste Fundevögelchen.

Mein heißgeliebtes, lautes, widerspenstiges, experimentierfreudiges, gefühlt nie schlafendes, haarereißendes, eigenwillig seiner Wege gehendes Kind. Seiner Wege gehend ist nicht metaphorisch gemeint: Der kleine Unruhegeist lässt sich selten von Türen und Zäunen aufhalten, von Verboten und Erklärungen eigentlich nie. Wirksam sind bislang nur Schlösser, unsere Wohnung gleicht einer Burg. In der Kita passen Schlösser nicht ins Konzept. Damit begründet sich die Eigengefährdung.

Mit einer Höherstufung des Förderplatzes, also mit deutlich mehr als den gut 1600 Euro monatlich, die sie zurzeit für sechs Stunden täglich (von denen das Kind vier Stunden in Anspruch nimmt) erhalten, würden sie das vielleicht doch leisten können. Weiterlesen

Sterngeboren

 

 

Sterngeboren

wurden wir

in die Sphäre des Planeten

verschlagen.

 

Unendlich einsam

fielen wir

Versteinerungen gleich

durch das All.

 

Fast erfroren

landeten wir

in den Armen

einer fremden Frau

die Heimat bot.

 

Ewig fremd

suchen wir

Verständigung

mit Blumen, Vögeln, Seen

und schaurig schnatternden Menschen.

 

Heimwehkrank

trinken wir

das Wasser der Seen

die Milch der Frau,

buchstabieren uns stockend durch die Zeichen der Menschen

und erlangen so

Bürgerrecht auf diesem Planeten.

 

Liebevoll und verzweifelt

kämpfen wir

im interstellaren Asyl

für die Klarheit der Seen,

die Rechte der Frauen

und die Freiheit, Zeichen zu setzen.

 

Immer

werden wir uns

nach der Sternenheimat

verzehren

und Gefährtinnen suchen

die wie wir

Lichtjahre gefallen sind.

 

Dieses Gedicht habe ich mir vor Jahren selbst zum Geburtstag geschenkt. Nun feiere ich mit ihm das einwöchige Bestehen dieses Blogs in den unendlichen Weiten des Internets.

Tag der roten Sonne

Und noch eine ABC-Etüde , diesmal stammen die drei Wörter,

verdammt

grenzenlos

Zweibrücken

die in zehn Sätze einzubauen sind von Gerda Kakazou, deren vergnügliche Gedichte und vor allem deren ganz besondere, eigentümliche Kunst ich euch ans Herz lege.

Die Illustration stammt wie immer von Ludwig Zeidler.

Ich weiß nicht, ob überall am Dienstag diese verwirrend verhangene Sonne zu sehen gewesen ist, ein oranger Ball am Himmel, in den man unbehelligt mit bloßem Auge hineinsehen konnte. Mir war bei dem Licht den ganzen Tag recht seltsam zumute, was eine etwas magische Etüde nach sich zog.

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Saharastaub und Partikel von Waldbränden auf der iberischen Halbinsel habe der Orkan auf seinem Weg nach Norden mit sich gerissen und so die Rote Sonne wieder erschaffen, las sie und seufzte. Dank Google wurden die Räume für Magie immer kleiner.

Mit zwölf Jahren hatte sie den Tag der Roten Sonne genutzt um Bettina Warnke zu verfluchen. Ein kleines elternverbotenes Feuer entfacht, einen winzigen Fotoschnipsel – die Feindin säuberlich aus dem Klassenbild geschnitten–  mit den Worten sei auf ewig verdammt verbrannt. Bettina sollte um Himmels Willen nicht sterben, nur aufhören über sie herzuziehen, über ihre verträumte Art, ihre Kleidung und unausgesprochen darüber, dass sie die mit dem peinlichen Bruder war, der mit fünfzehn wie ein Kleinkind sprach und im Linienbus masturbierte.

In der darauffolgenden Woche zog Bettina  nach Zweibrücken, ihr Vater war versetzt worden.

Ihre Bestseller über altes Hexenwissen und moderne Magie, ihre auf Monate ausgebuchten Kräuterseminare, ihr Hexenhäuschen im Wald, die finanziellen Mittel ihren Bruder besser als vom System vorgesehen versorgt zu wissen,  diesen Weg wäre sie nie ohne den sensationellen Erfolg dieses ersten plumpen Hexenrituals am Tag der Roten Sonne gegangen. Und heute, als die Rote Sonne wieder am Himmel stand, war diese Anfrage aus Zweibrücken eingetroffen Ob sie bereit wäre, für gutes Honorar aus ihrem neuen Bestseller „Grenzenlos“ zu lesen?

Inhaberin der anfragenden Buchhandlung war eine gewisse B.Warnke-Sommer.

 

 

 

 

 

 

 

Freundinnen

Eine der vielen Ermutigungen endlich mit dem Bloggen zu beginnen waren  die ABC-Etüden von Christiane, die jede Woche zum  Fabulieren lädt. Es ist übrigens auch für Menschen ohne eigenen Blog völlig unkompliziert mitzumachen. Die Regeln sind einfach: Höchstens zehn Sätze, in denen drei vorgegebene Wörter vorkommen müssen. Die Wörter dieser Woche wurden gespendet vom Schreiber des Blogs  „Red Skies Over Paradise“

Monat

fragwürdig

gehen

Die Illustrationen spendet Woche für Woche der unermüdliche Ludwig Zeidler

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Seit gut einem Monat saß Gerlinde in der 3b neben Natalie. Mit stramm geflochtenen Affenschaukeln, der weißen Bluse, Kniestrümpfen und dem dunkelblauen Rock wirkte Gerlinde wie Omis alter Fibel entsprungen. Sie unterschieden sich beide von den anderen 3b-Mädchen, hegten nicht den Berufswunsch Top Model und malten heimlich unter dem Tisch Bilder, die ein rosa Glitzereinhorn nie freiwillig betreten hätte.

Natalie wollte Gerlinde zu sich einladen, ihr die drei neugeborenen Meerschweinchen zeigen und auf dem großen Trampolin im Garten toben, doch ihre Eltern reagierten alarmiert. Jahrelang hatten sie dagegen gekämpft, dass das verlassene Gehöft am  Dorfrand von völkischen Siedlern übernommen wurde.

„Natalie, der Vater von Gerlinde redet auf jeder NPD- Kundgebung, für den sind wir Zecken. Der erlaubt seiner Tochter nur zu uns zu kommen, damit sie uns ausspioniert.“

Sie war zu jung, um es für sich in Worte zu fassen, doch Natalie fühlte, was für einen fragwürdigen Eiertanz ihr toleranzpredigender Vaters aufführte, mit Flüchtlingkindern sollte sie bitte immer gerne spielen und natürlich mit dem arroganten Nachbarsjungen im Rollstuhl, nur nicht mit Gerlinde.

Es blieb ihnen nur heimlich in den Wald zu gehen. In einer verwahrlosten Fichtenschonung tauschten sie Mädchengeheimnisse und offenbarten sich Welten, die einander ferner waren als der Merkur dem Mars.

Auf zu neuen Abenteuern

Ozeane auf einem Frachtschiff überqueren, einem Pinguin in seinem natürlichen Habitat ins Auge blicken, mit einem Kanu durch Mangrovenwälder paddeln – ausgesprochen unwahrscheinlich, dass ich irgendetwas davon in den nächsten Jahren erleben werde, obwohl ich alle drei Vorstellungen überaus reizvoll finde.

Solche Abenteuer vertragen sich nicht mit dem Leben, das ich aus freien Stücken gewählt habe.

Das Fundevogelnest hält seine eigenen Abenteuer bereit:

Das jüngste Fundevögelchen und ich lieben streifen so oft es geht durch ein nahe gelegenes Naturschutzgebiet: Keine Autos, keine Türklingeln, keine elektrischen Schiebetüren. Mit einem Wort wenig Anlass hinter dem Fundevögelchen herzurasen, um es an irgendetwas, das es gerade ganz dringend tun muss, zu hindern.

Aber irgendetwas ärgert es dann doch und schwupps fliegt die Brille durch die Luft und landet… irgendwo. Im Gras? Im Gebüsch? Im Matsch??? Immer wieder erstaunlich wie unsichtbar sich so eine Kinderbrille machen kann.

„Wo ist deine Brille?“

„Da!“, zeigt nach rechts, zeigt nach links, zeigt ins Gras, zeigt ins Gebüsch, betrachtet mich interessiert beim Krauchen durch die nasse Vegetation.

Auf einmal huscht eine schwarze Eidechse, nicht länger als ein Kinderbrillenbügel, über meinen Handrücken. Ein Pinguin hätte mich nicht mehr entzücken können. Das Kind hat ja leider keine Brille auf und sieht deshalb nicht die erste Eidechse seines Lebens

Kurz darauf finde ich die Brille im hohen Gras.

Zwanzig Minuten später stehen wir auf einer Brücke und werfen Äste den Bach und plötzlich ist da ein so ein ganz anderes klingendes blubb und ein brillenloses, höchst zufriedenes Kind.

„Du hast jetzt nicht deine Brille in den Bach geworfen?“

Natürlich hat es das getan. Brillen schwimmen nicht, nach einer Weile stochern und starren kann ich sie wirklich im Bachbett ausmachen. Wäre ich in den Mangroven mit meinem Kanu durchgekentert, wäre ich nicht nur bis zum Po nass geworden und hätte vermutlich meine eigene Brille verloren.

Heute ein paar Tage später war es einfach ein wunderbarer Ausflug, findet mein kleiner Kamerad auch: „Brille Wasser schmissen“, ist die Story, die Geschwistern und Kitaerzieherinnen brühwarm hinterbracht werden muss.

Alles ach wie nervig, ach wie nasskalt, ach lernt der niemals hören tritt zum Glück schnell in den Hintergrund und die Vorfreude auf das nächste Abenteuer überwiegt.

Neben so Basisvoraussetzungen wie Liebe zu Kindern und einer gewissen inneren und äußeren Stabilität halte ich Abenteuerlust, Neugier auf Überraschendes, Unbekanntes, Abweichendes und sogar Störendes für eine der wichtigsten Eigenschaft, um das Leben als Pflegefamilie gelingen zu lassen. Dass einem egal ist, was andere über einen denken, hilft auch ungemein, daran arbeite ich allerdings noch.

Wer sein Leben gern in planbaren, mit dem Leben situierter Bekannten vergleichbaren Bahnen zieht, kann natürlich auch mit selbstgeborenen Kindern und dem Schicksal als solches sein blaues Wunder erleben. Mit Pflegekindern steigt nur die Wahrscheinlichkeit.

Die Abenteuer mit den Fundevögeln beschränken sich nicht auf lustig zu erzählende Brillensuchgeschichten, es gibt scheinbar endlose Dürrezeiten, Angriffe von Bestien, die man bis dato für Fabeltiere hielt und Abgründe von schauerlicher Tiefe. Am unheimlichsten ist mir der Blick auf  die riesigen terrae incognitae in mir selbst, die Fundevögel haben Seiten von mir sichtbar gemacht, von denen ich nie ahnte, dass sie existieren. Ich gelange nicht nur gelegentlich an den äußersten Rand der Verzweiflung (acht Brillen in zwei Jahren, aufgebrachte Lehrer und ganz aktuell ein gekündigter Kitaplatz), sondern habe auch einen Ort kennengelernt, den ich den innersten Rand der Verzweiflung getauft habe, dann, wenn nicht außerhalb, sondern innerhalb die Dinge aus dem Lot geraten und sei es aus Erschöpfung

Das ist die Stunde derer, die fragen: „Na, bereust du es jetzt nicht doch?“

Nein. Nein. Nein.

Ich liebe die Fundevögel.

Und Abenteuer. Neue Welten entdecken. Und lägen sie im Naturschutzgebiet um die Ecke. Oder in den Abgründen meines Kopfs.

Oder im Bloggeruniversum. Diese Expedition startet jetzt und ich bin aus lauter Vorfreude schon ganz hibbelig und danke an dieser Stelle allen, die mich online und offline zu dieser Reise ermutigt haben.

antonia geb. 27.7.10

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