Zeit der Überraschungen …
Nachdem ich hier nun behauptet habe, mir käme niemals ein Weihnachtsbaum über die Schwelle, hat meine Mutter hier Donnerstag einen abgestellt, inklusive Ständer, Schmuck und Lichterkette.
Sie ist in diesem Jahr verwitwet, und wir werden den Heiligabend zum ersten Mal seit vielen Jahren gemeinsam verbringen. Und wenn eine Seele einen Weihnachtsbaum braucht … immerhin konnte ich sie zu einem ungespritzten Exemplar überreden. An dem werden hinterher noch die Hühner Freude haben.
Auch aus diesem Grund hole ich nun eine etwas ältere Weihnachtsgeschichte aus meinem Fundus.
Sie war damals Auftakt einer losen Geschichtensammlung über eine – erfundene!- Pflegefamilie, der ich immer mal wieder ein Kapitel hinzufüge.
Aus dieser Sammlung werde ich am 27. Januar im Café Mehlbeere in Großenbrode an der Ostsee vorlesen, mehr dazu rechts in der Leiste. Also für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass jemand im Januar an der Ostsee Urlaub macht …
Die „Mehlbeere“ ist allerdings das ganze Jahr einen Besuch wert, nicht nur wegen des köstlichen Kuchens.
Kurz vorm Fest habe ich noch ein Weihnachts- … nee … Geschenk kannund mag ich das nach dem von mir geleisteten Aufwand nicht mehr nennen, eine Weihnachtsberuhigung bekommen, der kleine Fundevogel kann mit deutlich mehr Betreuung in seiner Kita bleiben.
Weihnachtsstreber
Elisabeth Rabe hasst Weihnachtstreber, so nennt sie Menschen, die ab Halloween für das Fest der Feste leben und deren Häuser schon vor Totensonntag kilometerweit funkelen. Weihnachtsstreber besuchen jeden Adventssamstag Weihnachtsmärkte und fahren mit Kofferräumen voller Geschenke und Plätzchen nach Hause. Ihr absolut lotrechter Weihnachtsbaum ist der höchste des Viertels. Jedes Jahr erstrahlt er in einem neuen Outfit, während farblich abgestimmte Söhne und Töchter darunter erzieherisch wertvolle Geschenke auswickeln.
Auch wenn Mama es nicht glaubt – die meisten Menschen machen sich nicht so viel Weihnachtsstress. Sie kaufen einen normal großen Baum, schmücken ihn jedes Jahr mit den selben Sachen, hängen ein, zwei Lichterketten auf und überreichen ihren Kindern Spielsachen, die sie ihnen sowieso gekauft hätten. Das reicht um Freude zu haben. . Anfang Januar wickeln alle ihre Krippenfiguren wieder in Seidenpapier, insgeheim erleichtert, dass es wieder erst einmal vorbei ist.
Anders die Weihnachtshasser. Sie weigern sich mitzumachen, wie Elisabeth Rabe, die mit Weihnachten nichts zu tun haben möchte Wirklich nichts: Kein Baum, keine Geschenke, keine Karten, kein Adventskalender. Keine Freude.
Sonst ist sie nett. Wirklich, ich habe sie lieb. Abgesehen von Weihnachten macht sie gern und großzügig Geschenke. Sie regt sich so gut wie nie auf, weder über Unordnung im Kinderzimmer, noch über schlechte Schulnoten oder verrückte Tiere in der Wohnung. Eigentlich nur über Weihnachten.
„Jeder wie er will, aber ich nicht!“, sagt sie, wenn ihre Kinder einen Weihnachtsbaum wollen. Leider bin ich es, die seit sieben Jahren „Mama“ zu ihr sagt. Die Jahre davor war sie meine Tante, doch weil meine früheren Eltern das Kinder haben und auch sonst ihr Leben nicht so richtig in den Griff bekommen haben, habe ich mit vier Jahren die Mama gewechselt. Daher heiße ich auch nicht „Rabe“, wie Mama, sondern Fahlbek. Mareike Fahlbek. Außer Mama und mir wohnen hier noch Jonas, Adele und die Tiere – zwei Katzen, drei Meerschweinchen, vier Chinchillas und Rosalie, Mamas Kakadudame, die sie schon als kleines Mädchen hatte.
Jonas ist zwölf, Mama ist schon immer seine Mutter gewesen, sein Papa meldet sich genauso selten wie meine richtigen Eltern, nämlich nie. Adele hat ganz andere Eltern. Sie zog mit zwei Jahren bei uns ein. Inzwischen ist sie fünf, aber ein ziemliches Baby, quengelig, immer einen Schnuller im Mund, doch ich habe sie lieb. So lieb, dass ich ihr von meinem Taschengeld einen Adventskalender kaufen werde. Sie soll nicht die Einzige im Kindergarten sein, die keinen hat. Letztes Jahr hatte ich ihr auch einen gekauft. Mama passte das nicht, aber sie war sie gerührt, weil ich mein Taschengeld für Adele ausgegeben hatte und hängte den Kalender eigenhändig im Wohnzimmer auf. Jonas und ich öffneten lieber jeden Morgen im Innern unserer Kleiderschränke ein Türchen und setzten uns an den Frühstückstisch, den Mund voll heimlicher Süße.
„Kaufst du dir dieses Jahr wieder einen Adventskalender?“, fragt Jonas mich.
„Ja, und für Adele auch, ein bisschen Weihnachten soll dieses Kind haben dürfen.“
„Wir sollten dieses Jahr richtig feiern“, sagt Jonas. „Mit Baum, Geschenken, Keksen, und – ich glaube, einen Truthahn muss man kochen.“
„Truthahn essen die Engländer, hier musst du eine Gans braten.“
„Dann eben Gans. Hast du schon einmal eine Gans gegessen?“
„Nee. Du wirst auch keine essen, jedenfalls nicht zu Weihnachten. Mama hasst Weihnachten.“
„Ich hasse, dass sie es hasst. Ich will und werde dieses Jahr feiern, am 24. Dezember. Dieses Kaffeetrinken bei Oma am zweiten Feiertag ist doch nur zweite Wahl.“
Der zweite Weihnachtstag bei Oma tröstet uns immer ein wenig über Mamas Weihnachtssonderlichkeit hinweg. Bei ihr steht ein Baum mit echten Kerzen, es gibt Stollen und richtige Plätzchen. Meistens schenkt Oma uns Bücher und coole Klamotten, sodass wir nach den Ferien in der Klasse Geschenke vorführen können. Leider kommt Mama nie mit, sie bringt uns hin, überreicht ihrer Mutter einen Blumenstrauß und holt uns abends mit einem genervten Blick auf unsere Geschenke wieder ab.
„Am zweiten Feiertag kann ich wirklich nicht mehr feiern“, sagt sie entschuldigend zu Oma, so als ob sie an den Tagen davor auch nur versucht hätte. Ich schlage vor, Oma zu fragen, ob wir ausnahmsweise schon am 24. Dezember kommen dürfen.
„Vergiss es. Da kommt Murat, um mit ihr Weihnachten zu feiern, obwohl er das als Moslem gar nicht müsste.“
„Wir können ja mit ihm feiern“.
Ich mag Omas Freund.
„Ich will aber mit Mama feiern, nicht mit Oma und Murat. Wir überraschen Mama einfach. Sie wird schon nicht aus der Wohnung laufen, nur weil ein Weihnachtsbaum drin steht und wir eine Gans braten.“
Darauf würde ich nicht wetten. Außerdem kostet ein Weihnachtsbaum mindestens fünfzehn Euro. Ich habe keine Ahnung, wo und wovon wir eine Gans kaufen könnten, geschweige denn, wie sie zubereitet wird.
„Wir können die Gans ja weglassen“, Jonas lässt sich nicht beirren. „Wir essen einfach was Mama kocht. Aber wir brauchen einen Baum, Plätzchen, Kerzen und Geschenke.“
Ich bekomme Lust es zu probieren. Wir weihen Adele ein und beschwören sie, Mama nichts zu verraten. Ihre Redseligkeit ist ein Risiko, doch wir brauchen ihr Geld. Jonas und ich werden im Dezember je fünf Euro Taschengeld bekommen, drei hat Jonas noch von November über, ich zwei. Adele kriegt noch kein Taschengeld, aber in ihrem Spartopf finden sich 3,29 Euro in ganz kleinen Münzen. Als Jonas verspricht, einen Tannenbaum zu kaufen, schüttet sie ihm sofort alles auf den Schoß. Abzüglich dreier Adventskalender zu je 1,19 Euro bleiben uns 14, 72 Euro zur Ausrichtung eines Weihnachtsfestes.
„Mareike, was wünschst du dir? Ich wünsche mir ein Zelt. Adele ist langsam groß genug für ein eigenes Fahrrad.“
Jonas spinnt. Wir haben nicht mal Geld für einen Weihnachtsbaum und er faselt von Zelten und Fahrrädern. Ich wünsche mir schon länger einen eigenen CD-Player und bin ziemlich sicher, Mama wird mir am 21. September nächsten Jahres einen zum Geburtstag schenken, ein Fahrrad für Adele hat sie schon auf dem Boden stehen, unsere Kleine wird am dritten Januar sechs. Jonas wird auf sein Zelt noch bis Juli warten müssen, aber vorher wird er kaum zelten gehen wollen.
„Ich will richtig Weihnachten feiern, mit richtigen Geschenken.“
„Für 14,72 Euro.“
„Bis Weihnachten kann sich ja noch was ändern.“
Mein Bruder war schon immer ein Sturkopf.
Am nächsten Samstag werden im ganzen Stadtteil Elektrodekorationen aufgehängt. Fenster, Fassaden und Bäumen strahlen, als sollten sie wenigstens einmal im Jahr beachtet werden. Prompt bekommt Mama schlechte Laune. „Jedes Jahr mehr Strom für diesen Weihnachtsunfug“, faucht sie. „Das Klima muss ja kaputt zu kriegen sein.“
„Wann kaufst du mir einen Weihnachtsbaum?“, fragt Adele. „Bestimmt nicht am Totensonntag“, sagt Mama in einem Ton, der ausschließt, es könne an einem anderen Tag dazu kommen.
Weil Mama so genervt ist, nehme ich Quengeladele mit in die Bücherhalle.
„Bringt von unterwegs Brot mit, bitte Mareike “, ruft Mama uns nach. Beim Bäcker bekommen wir kleine Schokoweihnachtsmänner geschenkt. Adeles schaffe ich gerade noch auszuwickeln, ehe sie ihm neben ihrem Schnuller in den Mund schiebt. Ich knibbele am Papier meines Männchens und halte dann inne – zu einem richtigen Weihnachtsfest gehören bunte Teller. Dieser Wicht soll mein Grundstock sein. Behutsam schiebe ich ihn in die Jackentasche und verwahre ihn, sosehr Adele auch danach giert. Auf einmal glaube ich an unser Fest.
In der Bücherhalle entleihe ich „Weihnachtsdekorationen selber machen für wenig Geld“, „Die besten Weihnachtsrezepte aus drei Jahrhunderten“ und eine CD mit Weihnachtsliedern zum Mitsingen.
Während wir in der Bücherhalle waren, hat Jonas Frau Fischer besucht, eine liebe Nachbarin, von allen nur „Fischy“ genannt, eine waschechte Weihnachtsstreberin. Unter dem Vorwand, Mama mit einer neuen Kekssorte überraschen zu wollen, lässt Jonas sich von Fischy das Backen zeigen und bekommt nicht nur das Rezept, sondern auch eine kleine Dose voller Probeexemplare, die in unseren Weihnachtsvorrat wandert.
Wir machen es zur Methode. Wenn im Freundeskreis gebacken wird, laden wir uns ein und lagern immer mehr Kostproben in Tüten und Tupperdosen unter meinem Bett.
Adele und ich werden immer perfekter im Schnorren von Süßigkeiten. Wo immer Vorweihnachtsmänner ihre Gaben verteilen, sind wir schon da. Adele fordert ungeniert: „Wir brauchen Naschies, Mama kauft uns keine.“
Weil sie so niedlich ist, quellen ihre kleinen Hände bald über. Es lohnt sich, obwohl sie das meiste vor Ort verschlingt.
„Süßigkeiten haben wir langsam genug.“
„Weihnachten ist nicht nur naschen! Wir brauchen unbedingt einen Tannenbaum, sonst glaube ich nicht, dass wir Weihnachten feiern.“
„Ich glaube es sowieso nicht.“
„Mareike, sei kein Miesepeter! Guck’ doch, was wir alles schon geschafft haben, obwohl wir Kinder sind, die beklagenswert wenig Taschengeld bekommen.“
Ich habe mittlerweile einen stattlichen Haufen Tannenbaumschmuck fabriziert, aber meine Sterne, Wichtel und Papprentiere stimmen mich nicht froh. Trübsinnig denke ich an das ganze Zubehör, welches ich nicht einfach basteln kann: Weihnachtsbaumständer, Kerzen und Kerzenhalter. Oder eine elektrische Lichterkette, die mit unserer flippigen Adele bestimmt die bessere Lösung wäre. Ein Tannenbaum, an dem sich ihr Herzblatt als erstes die Pfoten verbrennt, würde Mama vermutlich nicht weihnachtsgewogener stimmen.
„Möglicherweise hat jemand einen alten Weihnachtsbaumständer, den er nicht mehr braucht, ich meine jemand, der sich was Moderneres angeschafft hat. Wir können ja mal rumfragen.“
Wie peinlich ist das denn? Ein Kind, das nach einem abgelegten Tannenbaumständer fragt. Als ob wir bettelarm wären. Jeder weiß, dass wir das nicht sind. Oder nach einer Mutter, die sich nicht um ihre Kinder kümmert. Ich finde, das geht keinen etwas an.
Kurz nach dem Nikolaustag komme ich mächtig in Weihnachtsstimmung: Es schneit. Mama fährt mit uns zu Oma zum Schneeräumen. Oma hat es nämlich in der Hüfte und Murat besucht zurzeit seine Familie in der Türkei. Nachdem Jonas und ich einen Schneemann gebaut haben, spielen wir in Omas Schuppen.
„Nee, das gibt es nicht!“
Auf einem Bord stehen zwei Tannenbaumständer. Oma und Murat werden kaum zwei Bäume aufstellen wollen. Doch wie Oma fragen, ohne Mama Argwohn schöpfen zu lassen? Im Moment schaufelt sie hingebungsvoll Schnee. Also schnell! Mein Bruder ist ein Geschichtenerzähler und Ausredenerfinder ersten Ranges. Er erzählt Oma ohne mit der Wimper zu zucken von einem Weihnachtsbaum, den ein Förster seiner Klasse geschenkt habe, weil sie im Wald Müll gesammelt hätten. Diesen Baum könnten sie jetzt in ihrer Klasse aufstellen, wenn, ja, wenn sie nur einen Ständer hätten. Natürlich schenkt Oma der 6b sofort ihren Zweitständer und eine Schachtel Glaskugeln dazu.
„Nur überzählige Kerzenhalter habe ich nicht, aber Lichterketten kosten heutzutage nicht mehr die Welt.“
„Ist auch sicherer, wegen Adele …“,
Jonas rammt mir seinen Ellenbogen in die Rippen, was Oma nicht entgeht. Sie runzelt die Stirn.
„Was hat Adele mit dem 6b-Tannenbaum zu tun?“
Ich stottere irgendwas von wegen Weihnachtsfeier mit Eltern und Geschwistern und Adele sei schließlich immer so hampelig. Zum Beweis klirrt es genau bei diesen Worten. Adele hat den Josef aus Omas Weihnachtskrippe fallen gelassen. Fast alle Figuren haben wieder angeklebte Köpfe, Beine oder Hufe, doch Josef ist in winzigste Stücke zersprungen. Adele heult. Oma nimmt sie in den Arm.
„Ach Kleines, das macht der Oma doch nichts“.
Aber sie ist traurig, das sehe ich genau. Sie hat diese Krippe schon ewig, bestimmt erinnert sie Oma an die Zeit, als Opa noch lebte und das kleine Mädchen, das mich später im Bauch hatte, noch keine Drogen nahm. Ob das andere kleine Mädchen, das jetzt meine Mama ist, Weihnachten schon damals gehasst hat?
Abends bastele ich für Oma einen neuen Josef aus FIMO. Es macht Spaß, deshalb forme ich eine ganze Krippe, die wir am Heiligabend neben unserem baumfreien Ständer aufstellen können.
„Na, du Weihnachtsstreber“,
Mamas Ton ist nicht besonders spöttisch, eher zärtlich. Auf ihrer Schulter thront Kakadu Rosalie. Ich fange an zu heulen.
„Ach, Mareike, ist Weihnachten dir denn so wichtig?“
Ich schlucke meine Tränen runter, zucke mit den Achseln.
„Weißt du“, fährt Mama fort. „Ich war von Weihnachten immer enttäuscht. Ein Baum wird ins Zimmer gefahren, alle überfressen sich und tun, als liebten sie sich auf einmal, obwohl doch in Wirklichkeit alles geblieben ist wie immer.“
„Und wenn man sich in Wirklichkeit liebt?“
Mama legt mir ihren Arm um die Schultern. Rosalie hüpft auf mein Knie, gemeinsam kraulen Mama und ich die weichen Federn an ihrer Kehle.
das ganz besondere Kuchenhaus des großen Fundevogels
Langsam kommen wir voran, Jonas durchkämmt die Küche bis er Mamas Vorrat an Teelichtern findet. Adele bekommt von Fischy einen Nussknacker und ein Räuchermännchen geschenkt.
Ich erlebe meinen größten Weihnachtstriumph. Ich ergattere ein Zelt für Jonas! Ganz zufällig, weil der Vater meiner Freundin Svenja Jelinski es als Werbegeschenk bekommen hat. Da Jelinskis nicht campen, haben sie mich gefragt, ob ich es haben will!
Ich muss mich zusammenreißen, um nicht jubelnd durch Jelinskis Haus zu tanzen, Frau Jelinski guckt mich ohnehin schon ganz merkwürdig an, dabei habe ich Svenja nie was von unseren Weihnachtsabsonderlichkeiten erzählt, denn die gehen niemand etwas an.
Für Adele ziehe ich einfach ein paar Glitzerketten auf, Jonas zeige ich vorsichtshalber das Geburtstagsfahrrad im Bodenversteck, er hat nämlich ernsthaft erwogen ein Kinderrad zu stehlen.
„Jonas, ich nehme keinen geklauten CD-Plaer an!“
„Aber ich will dir was Cooles schenken.“
„Ach komm, das coolste ist, wenn wir es überhaupt schaffen Weihnachten zu feiern, Mama zum Trotz. Apropos, was schenken wir Mama?“
Jonas starrt mich an: „Die habe ich voll vergessen.“
„Auf jeden Fall haben wir nur Geld für ein Geschenk für Mama oder für einen Weihnachtsbaum.“
„Weißt du was, wir sägen im Park einen Baum ab!“
„Du spinnst!“
„Gar nicht. Wir machen das nachher, Mama wollte doch kurz zu Oma.“
„Wir sollen auf Adele aufpassen.“
„Die nehmen wir mit. Wer quengelt den ununterbrochen, <Jonas, Jonas kauf mir einen Tannenbaum>?“
Im Park wachsen keine Tannen, jedenfalls keine wohnungstauglichen. Mit der Taschenlampe dringen wir immer tiefer in die Gebüsche vor. Adele fragt alle zwei Minuten: „Wann kommt endlich unser Weihnachtsbaum?“
Wir finden einige Tannenzweige, man könnte sie zu einem festlichen Strauß binden, aber wozu haben wir einen Tannenbaumständer beschafft? Es war so umständlich gewesen dieses sperrige Ding von Mama unbemerkt ins Auto zu schmuggeln.
„Da, da!“, schreit Adele auf einmal. Ein Weihnachtsbaum ist das nicht, sondern ein mächtiger Kiefernast, den ein Sturm erst kürzlich heruntergerissen haben kann. Wir beschließen, ihn zurechtzusägen und in unseren Tannenbaumständer einzuspannen. Auf dem Rückweg kaufen wir einen kleinen Delikatesskorb für Mama – hoffentlich werden Rotwein und Schinken ihr über den Schock hinweghelfen, den wir ihr am Heiligabend verpassen werden.
„Leute, wir haben es geschafft“, Jonas Stimme überschlägt sich fast vor Freude.
„Nur, wie bauen wir das ganze auf, ohne dass Mama Argwohn schöpft?“
Schon wieder ein beinahe unlösbares Problem. Allmählich verstehe ich, dass Mama Weihnachten lästig findet. Dabei haben Erwachsene es viel leichter als wir. Sie werfen die Kinder einfach aus dem Weihnachtszimmer und können vorbereiten, was sie wollen. Die Kinder freuen sich sogar. Die Tage vergehen, uns kommt keine durchführbare Idee, wie Mama am 24. für ein paar Stunden aus der Wohnung zu locken sein könnte.
Wir müssen jemanden dazu kriegen, sich genau in dieser Zeit mit ihr zu verabreden. Aber wen? Oma würde misstrauisch werden. Fischy ist vollkommen überwältigt von ihren eigenen Vorbereitungen auf das perfekte Fest.
Als Mamas alter Sudienkumpel Ludwig anruft, bringt sie gerade Adele zu Bett. Die Zubettbringzeit ist bei uns heilig. Mama sagt: „Ich schenke euch jeden eine Viertelstunde täglich, dabei hat keiner zu stören, weder das Telefon, noch mitteilungsbedürftige Geschwister. Die einzige Ausnahme ist Feueralarm.“
Jonas packt die Gelegenheit beim Schopfe, Ludwig ist sofort bereit, Mama für eine Weihnachtsüberraschung aus der Wohnung zu locken.
Am nächsten Morgen ist sie ganz verlegen, als sie uns fragt, ob es in Ordnung wäre, wenn sie uns am 24. ein paar Stunden über Mittag alleine ließe. Wir mimen die Großzügigen, bieten sogar von uns aus an, Adele zu hüten. Zum Dank dürfen wir uns das Abendessen wünschen. „Aber keine Gans“, sagt Mama, ehe ich genau diesen Vorschlag machen kann. Wir einigen uns auf Pizza und Eis. Das ist ja auch lecker. Eine Gans braten lerne ich, wenn ich erwachsen bin.
Ruckzuck räumen wir ein paar Stühle aus dem Wohnzimmer und legen los. Der Kiefernast ist krumm und harzig. Jonas versucht ihn zu kürzen, dabei bricht Mamas Fuchsschwanz ab. Eine weitere Säge haben wir nicht im Haus, also schrauben wir den Ast in voller Länge in Omas Tannenbaumständer fest. Die Schrauben sind wahrscheinlich ein paar Jahrzehnte nicht mehr benutzt worden und vollkommen eingerostet. Ich stelle mich auf den widerspenstigen Ständer, während Jonas mit der Rohrzange versucht, die Schrauben zu bewegen.
„Brich’ nicht noch die Rohrzange durch“, mahne ich. Die Zange bleibt heil, stattdessen brechen zwei der vier Halterungsschrauben des Ständers. Nachdem wir die beiden restlichen notdürftig in den Ast getrieben haben, sind unsere Hände und Pullis voller Harz. Die gesamte Konstruktion bekommt Übergewicht und fegt eine Blumenvase von Tisch. Die Vase bleibt heil, der Teppich ist nass und voller Blütenblätter. Uns bleibt nichts anderes übrig, als unseren Weihnachtsbaum mit der Wäscheleine am Bücherregal zu vertäuen.
Aus dem ramponierten Ständer ragt nun ein fast meterlanger harziger Ast, mehrfach angesägt, mit einer blauen Plastikwäscheleine umwickelt. In annährend rechtem Winkel dazu baumelt ein Büschel Kiefernzweige ins Zimmer. Der nasse Teppich ist voller Nadeln und Harz. Mein Mut stürzt kilometertief.
„Wenn wir ihn schmücken, wird es besser“, muntert Jonas mich auf. Mit Tannenzweigen und Blumendraht versuche ich den hässlichen Stamm zu verkleiden, wir hängen Omas Glaskugeln und meinen Schmuck hinein. Da wir uns keine Weihnachtslichterkette leisten konnten, nehmen wir die Lichterkette vom Balkon, erleuchtete Zitronen, Bananen und Wassermelonenschnitze. Nie sah etwas einem Weihnachtsbaum weniger ähnlich. Ich möchte alles sofort wieder abbauen, aber Jonas meint besser ein garstiger Baum als keiner. Adele fragt gerade zum hundertsten Male: „Jonas, wann kaufst du endlich den Weihnachtsbaum?“
Er schnaubt und verbraucht Mamas gesamtes Tesafilm, um alles was ich gebastelt habe an die Fensterscheiben zu kleben. Ich versuche die Flecken aus dem Teppich zu rubbeln. Weil das nicht gelingt, bedecke ich die Fläche unter dem Baum, mit einem Tischtuch, darauf kommen die FIMOkrippe, der Nussknacker, das Räuchermännchen und die Geschenke. Das Zelt musste ich leider in einer Plastiktüte verpacken, wenigstens habe ich eine schöne rote Schleife aufgetrieben. Adeles Geschenk ist immerhin in Geschenkpapier gehüllt, wenn auch mit Küken und Osterhäschen drauf, Weihnachtspapier kommt hier so selten ins Haus. Jonas hat auch ein Geschenk für mich. Ganz schön riesig, in funkelnagelneu wirkendes Weihnachtspapier verpackt. Mamas Korb glitzert in Cellophan. Die bunten Teller quellen über, aber wenn Adele so weiternascht, werden sie das nicht mehr tun, wenn Mama nach Hause kommt. Jonas stellt die Teller auf den Schrank, Adele heult, das sei kein richtiges Weihnachten. Auch ich kämpfe mit den Tränen. Jonas stellt unverdrossen sämtliche Teelichter auf, kann sie nur leider nicht anzünden, weil Mama, wegen Adele, Feuerzeug und Streichhölzer versteckt hält. Um nicht völlig zu verzweifeln, stecke ich die Weihnachts-CD in die Anlage. Sie funktioniert nicht.
„Ich will Naschies! Weihnachten ist blöd!“, kreischt Adele. Wortlos knalle ich ihr ihren bunten Teller auf den Schoß. Sie schlingt Schokolade, wie nur Adele schlingen kann. Innerhalb weniger Minuten ist der Teller leer und sie klebt von oben bis unten. Rosalie ist durch die ungewohnten Vorgänge im Wohnzimmer nervös geworden und kreischt in schrillen Kakadutönen. Die Katzen haben sich in Mamas Zimmer verkrochen. Mitten im Wohnzimmer auf dem nassen klebrigen Teppich liegen die Rohrzange, die leeren Tesafilmrollen und der zerbrochene Fuchsschwanz.
Als wir Mamas Schlüssel in der Tür hören, stürzen wir in den Flur, als gäbe es noch eine Chance die Katastrophe zu verbergen.
„Kinder, was ist los? Ist was Schlimmes passiert?“, ruft sie erschrocken, als sie uns sieht. Mir bleibt keine Zeit darüber nachzudenken, was für einen Eindruck wir, beschmiert mit Harz und Schokolade, auf sie machen könnten, denn mir bleibt der Mund offen stehen.
Mama hält einen Weihnachtsbaum in der Hand, größer als sie selbst. Neben ihr steht Ludwig mit einem Tannenbaumständer in der einen und einem Turm Pizzakartons in der anderen Hand. Hinter den beiden tritt der Weihnachtsmann durch die Tür. Nicht so ein Typ mit angeklebten Bart, sondern ein Hüne mit einem echten weißen Vollbart. Er ist mit unzähligen Plastiktüten beladen und grinst von einer Bartseite zur anderen.
„Mein Weihnachtsbaum!“
Adele hat sich als erste wieder gefangen und hüpft ausgelassen herum. Mama wird rot.
„Wir wollten euch eine kleine Freude machen“, murmelt sie. „Wie wäre es, wenn ihr euch ein klein wenig wascht und ein bisschen, nun ja, sagen wir mal, dem Anlass entsprechend kleidet?“
Ich merke, wie auch ich rot werde.
„Wir wollten dir auch eine Freude machen“, sage ich ganz leise. Jonas öffnet stumm die Wohnzimmertür.
„Nein! Das ist ja … das ist ja …Ludwig, Gerhardt, das müsst ihr euch ansehen. Wie schön!“
Sie gibt Jonas und mir einen Kuss, Adele ist gerade in einem unküssbaren Zustand.
„Ludwig, unser Baum passt doch daneben, oder?“
Jonas und ich ziehen uns um, die schwarzen Flecken sind nicht von den Fingern zu bekommen. Adele wird von Mama kurz entschlossen unter die Dusche gestellt. Ludwig und der Weihnachtsmann verschwinden im Wohnzimmer. Er ist wohl doch nicht der echte Weihnachtsmann, der würde kaum Gerhardt gerufen werden.
Als wir wieder ins Wohnzimmer kommen, sind die Werkzeuge verschwunden. Alle Teelichter brennen. Der zweite Weihnachtsbaum prangt neben unserem in verschwenderischer Pracht, weitere Päckchen in Weihnachtspapier sind dazu gekommen.
„Ich schlage vor, wir essen vor der Bescherung, die Pizza wird sonst kalt“, sagt Mama gerade, als es klingelt.
Adele stürzt wie immer als erste zur Tür.
„Noch’n Weihnachtsbaum“, sagt sie. Es klingt nicht besonders erstaunt. Dieser Baum ist der größte. Er füllt die Türöffnung komplett aus, ist fertig geschmückt, mit echten Kerzen, die nur noch nicht angezündet sind. Erst denken wir der Baum sei alleine gekommen. Doch als wir ihn hereinholen wollen, entdecken wir Oma und Murat im Treppenhaus, beladen mit Geschenken und einem Tablett türkischer Spezialitäten.
„Ich hatte das Gefühl den Kindern fehlt etwas“, erklärt Oma betreten, nachdem Murat und Gerhardt den Riesenbaum im Flur aufgestellt haben.
„Ja, Ludwig hat mich auch überzeugt, dass Elisabeth Rabe eine Rabenmutter ist und mich dazu gebracht, meine Kreditkarte hemmungslos auszunutzen. Dabei können meine Kinder hervorragend für sich selber sorgen.“
Sie weist ins Wohnzimmer. Komisch, Oma ist von dem Schauderbaum in ihrem ruinierten Ständer genauso begeistert wie Mama.
Beim Essen klingelt es wieder. Fischy steht in der Tür, mit einer Riesendose selbstgebackener Kekse und einem kleinen Weihnachtsbaum im Blumentopf.
„Klein-Adele hat mir erzählt, wie sehr sie sich einen Baum wünscht und was für Mühe der Große sich gibt, seinen kleinen Pflegeschwestern eine Freude zu bereiten. Da dachte ich …“
„Möchten sie lieber eine Pita oder ein Stück Pizza?“, Mama scheint nicht an Fischys Gedanken interessiert und stellt den Minibaum auf den Esstisch. Fischy und Oma verstehen sich auf Anhieb prächtig. Bald stellt sich heraus, Fischy wäre dieses Jahr in ihrer Weihnachtsstreberwohnung völlig allein gewesen, ihr Sohn ist zurzeit im Ausland beschäftigt, der Mann schon lange tot. Also läuft sie schnell rüber, um Gänsekeulchen mit Rotkohl zwischen Pizzakartons und Peperoni zu stellen.
„Ja, Mensch, wenn ich an meinen Kumpel Ralph denke“, sagt der Weihnachtsmann. „Der hockt völlig allein im Männerwohnheim vor der Glotze.“
„Ruf ihn an“, sagt Mama mit der Miene eines Menschen, den nichts mehr erschüttern kann. „Er kann kommen – unter einer Bedingung …“
„Elisabeth, ich kann nicht garantieren, dass Ralph noch nüchtern ist.“
„Ist mir egal, ich brauche selbst gleich einen Cognac. Aber er kommt ohne Baum!“
Ralph lässt sich ziemlich viel Zeit. Vor ihm klingelt der fünfte Weihnachtsbaum, in Begleitung von Adeles Kindergärtnerin, der dieses schreckliche Kind auch von der Suche nach dem Weihnachtsbaum erzählt hat. Der Weihnachtsbaum der Kindergärtnerin könnte ein Zwilling von Fischys sein und wird in Adeles Kinderzimmer verbannt. Die drei Überraschungseier der Kindergärtnerin bilden den Auftakt zur Bescherung. Oma freut sich wahnsinnig über den Ersatzjosef. Jonas hat nun zwei Zelte und ich kann ihm seinen CD-Player zurückgeben. Dieser liebste aller Brüder hat mir seinen eigenen in wunderhübschem Weihnachtspapier überreicht, aber der neue Apparat von Mama reicht mir. Nicht ganz ausreichend ist dagegen unsere Weinflasche für so viele Erwachsene in Feierlaune. Zum Glück hat Ralph, als er endlich kommt, zwei weitere Flaschen dabei. Im Treppenhaus hat er ein Weihnachtsgesteck gefunden, eine Karte liegt dabei. Für mich, mit den besten Grüßen der Familie Jelinski.
Es ist ziemlich eng in der Wohnung mit so vielen Menschen und Weihnachtsbäumen. Oma klönt mit Fischy, Adele tobt mit Ralph und Gerhardt über die Polster, Ludwig und Murat justieren die Tannenbäume. Jonas fachsimpelt mit der Kindergärtnerin über Chinchillas. Nachdem sie zig Mal beteuert hat, wie peinlich ihr das alles sei, hat sie sich die Rückkehr in ihre leere Wohnung ausreden lassen und kuschelt nun mit unseren Tieren. Mama und ihre Weihnachtsgehilfen haben selbst sie nicht vergessen: Rosalie bekommt ein Stück Melone, die Katzen Fischfilet, für das sie gern unterm Bett hervorkriechen. Sogar an Petersilie für die Meerschweinchen und Rosinen für die Chinchillas hat Mama gedacht. Jetzt guckt sie nachdenklich über das glitzernde Durcheinander.
„Ich und fünf Weihnachtsbäume“, sagt sie leise.
„Findest du es sehr schrecklich?“, frage ich besorgt.
„Nein, irgendwie hat es Stil. Nächstes Jahr sollten wir vorher ein bisschen putzen.“
„Putzen?“, Jonas reißt Mund und Augen auf. „Mama, wir sind doch keine Weihnachtsstreber.“
(Natalie Berghahn)
Ich hab sie jetzt zweimal gelesen und finde sie einfach wunderbar. Könntest du vielleicht mal irgendwo lesen, was nicht zweieinhalb Stunden von mir weg ist? Ich würde dir bestimmt zuhören wollen.
Liebe Grüße
Christiane
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Liebe Christiane,
Ich freue mich, dass dir die Geschichte so gut gefällt. Sie gehört auch zu meinen eigenen Liebblingen,die man als Schreibende ja auch immer hat
Lesungen sind – selbst ohne Honorar- nicht einfach zu arrangieren, wenn man nicht bekannt ist und keinen Verlag im Hintergrund hat, der sich kümmert.
In Hamburg habe ich zweimal aus „Zwischenzeit“ gelesen, es war ein Riesenaufwand.
Und die Mehlbeere lädt mich halt ein.
Aber wenn sich mal wieder etwas in Hamburg ergibt, sei gewiss, du wirst davon erfahren.
Natalie
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Liebe Natalie, als Weihnachtsmuffel habe ich diese Geschichte mit größtem Vergnügen gelesen und mich erinnert: Als mein Sohn klein war, hatte ich beruflich mit der Familienfürsorge zu tun. Die Damen waren entsetzt, als sie hörten, ich hätte nicht vor, einen Weihnachtsbaum zu schmücken, denn das täte ich nie. Plötzlich fühlte ich mich als Rabenmutter und kaufte schuldbewusst ein Bäumchen, dass ich ihnen vor dem Fenster ihrer Amtsräume fröhlich grinsend präsentierte. …es blieb freilich bbei dem einen, denn mein Mann bestand auf Plastikbaum und elektrischen Lichterketten, wegen der angeblichen Brandgefahr und nein, Plastik war schlimmer als gar nicht…., Also schmückte ich hinkünftig und bis heute nur einen großen Kiefernast.
Und noch was: Großenbrode ist für mich fast Heimat. Ich bin in Heiligenhafen aufgewachsen, und in Großenbrode wohnte meine beste Schulfreundin, jetzt lebt sie in Hamburg. Welche Beziehung hast du denn zu dem Ort? Vielleicht kennst du sie?
Jetzt lese ich gleich noch eine Geschichte von dir. Mit den besten Grüßen Gerda
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Liebe Gerda,
Das Café Mehlbeere ist tatsächlich meine einzige Verbindung nach Großenbrode.Die beiden Frauen, die es betreiben, lebten früher in Hamburg.
Herzliche Grüße
Natalie
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Schöne Geschichte. Auch bei grauem Regenwetter in der nach Weihnachtszeit macht es Spaß das zu lesen liebe Grüße Jan
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