Ganz klein

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Herbstanfang. Ein Dreieck Wildgänse zieht rufend über den Garten. Kommt heil zurück, rufe ich ihnen leise nach. Ein paar Bläulinge flattern am Ende dieses Sommers ohne Schmetterlinge doch noch um blühende Nachtkerzen herum und ich kann mich kaum satt sehen an ihnen. Ich pflücke die gefühlt hundertste Zucchini des Jahres, sie wird eine der letzten sein.

Ich denke an das Mädchen, das in dem Alter war seine Flügel auszubreiten und stattdessen in der Nacht zum Montag gestorben ist. Zaungast war ich bei diesem Tod,  eine dicke Telefonleitung eigentlich nur, zur kleinen Schwester, die ihr Patenkind auf eine Weise begleitete, vor der ich mich tief verneige. Nicht nur sie wuchs über sich hinaus. Wenn ein Mensch schon zur Unzeit sterben muss, dann so umhüllt wie dieses Kind.

Ich lichte Himbeersträucher aus, pflanze eine weitere Hecke an. Das Gemüse zu pflegen schaffe ich ohnehin nicht so recht und die Bienen lieben die Himbeerblüten, die Kinder die Früchte mehr als jedes Gemüse. Beim Graben riecht es nach Beifuß und Brennnessel, selbst am Grund der Pflanzlöcher ist der Boden noch trocken wie Staub. Der Wind wird stärker, zu frühe Blätter fallen, die Bläulinge verziehen sich.

Anna Lenas Etüde geht mir nicht aus dem Kopf. Dieses Gefühl, dass etwas im Weltgefüge auf der Kippe steht, noch mehr auf der Kippe als sowieso schon, dass es jetzt wirklich Zeit ist. Nicht nur Anna- Lena scheint das zu fühlen, wie der auffrischende Herbstwind verbreiten sich solche Texte im Internet, sie sprießen in Gesprächen und Träumen, denn unser Heimatplanet droht zu erschöpfen. Zeit ist es, höchste Zeit alle Fehden um Hautfarben, Religionen und territoriale Ansprüche beizulegen und zusammenzuhalten auf diesem Planeten, der so einsam durch das Weltall fliegt.

Vor rund hundert Jahren schriebenn Autoren vom kommenden Weltenbrand. Nie habe ich es Hermann Hesse und Thomas Mann recht verzeihen können, dass sie Max Demian und Hans Castorp als Antwort auf den Ruf, dass es Zeit sei als Freiwillige in den Ersten Weltkrieg, den ganz sinnlosen und fürchterlichen Weltenbrand schickten. Fiel diesen Giganten des Wortes wirklich keine bessere Antwort ein? Aber dieses Scharren, dieses Ziehen, das Gefühl, dass etwas wahrhaft Großes geschehen muss, das haben sie so trefflich beschrieben und ich fühle mich klein.

Ich denke an die Menschen, die einen uralten Wald durch ihre körperliche Anwesenheit verteidigen. Die wissen, dass es Zeit ist, lange schon Zeit ist Wälder zu bewahren, zu pflanzen, die Kohle in der Erde zu lassen, das Öl und auch das Uran. Einmal nur bin ich in diesem tieftönenden Wald gewesen, als Zaungast wieder mal, habe ein paar der verwegenen Baumhäuser gesehen, die nun zertrümmert werden, um hernach den Wald zur offenen Wunde zu machen. An jenem Tag hörte ich, wie meine Reisebegleitung (nein das klingt falsch, wir waren die Reisebegleitung) von ihrem langwierigen Kampf gegen einen anderen Tagebau erzählte. Aus La Guajira war Deris gekommen, als Gesandte des Volkes Wayúu, auch sie eine, die sehr gut weiß, dass es Zeit ist. Auf der Halbinsel La Guajira liegt der größte offene Tagebau der Erde, eine gigantische Wunde in unserem Planeten, für die Flüsse umgeleitet und Menschen vertrieben werden. Mit der Kohle aus dieser Wunde wird auch das Kraftwerk Moorburg in Hamburg befeuert.

In Kolumbien wird mit denen, die Menschenrechte verteidigen, die die Umwelt schützen, nicht zimperlich umgegangen. Deris ist oft bedroht worden. Sie hat er- und zum Glück auch überlebt, dass auf sie geschossen wurde. Sie hat keine Kinder und das wundert mich nicht. Verwundbarer wird man durch die, für die man Verantwortung trägt.

Und ich höre von dem, der aus den Bäumen fiel. Kannte ihn nicht und trotzdem fühlt es sich nahe an.

Ganz, ganz klein fühle ich mich da bei meinen Himbeersträuchlein. Läppisch mit meinem kleinen Ökogarten, der freundlichen Zurückweisung von Verpackungen, dem Fahrrad auf allen Wegen, meinen geistesgestörten, vorm Schlachthof geretteten Hühnern, den mit im Hals klopfenden Herzen auf rechte Kommentare gegebenen Repliken, den paar Spenden und beherbergten Delegierten.

Gleich wird es regnen. Der Sturm frischt immer mehr auf, über den Gärten, die nicht so unkrautüberwuchert sind wie dieser, wirbeln Staubwolken auf. Ich zurre die Gurte an den Dächern der Bienenhäuser fester. Wer täte das statt meiner, reiste ich kopflos in den Hambacher Forst? Wer nähme der Herzensfreundin die Wege ab, die sie nicht mehr schafft? Wer kümmerte sich vor allem um die beiden verletzten Fundevogelseelen, die mir anvertraut worden sind?

Ich stehe hier und ich kann nicht anders. Martin Luther soll das zwar in Wirklichkeit nie gesagt haben, es ist aber trotzdem eines der berühmtesten Zitate für das Losgehen, weil er fand, dass es Zeit geworden war (leider keine, um seinen Judenhass zu überwinden, weshalb mich dieser Reformationsfeiertag … aber nein, das ist eine andere Geschichte). Ich bleibe, ich stehe an keiner prominenten Stelle, teils weil das Schicksal es so will, größtenteils aber, weil ich Entscheidungen getroffen habe.

Mehr Verantwortung wäre verantwortungslos. Ich weiß. Ja, ich weiß. Ich glaube, ich habe heute einfach einen kleinmütigen Tag.

Jetzt schüttet es richtig. Auf dem Heimweg knallt ein Ast genau an meinem Gesicht vorbei auf den Fahrradlenker.

Nichts passiert.


 

Dieses nette Bild, das mich fast zum Weinen brachte, schickte mir der Student der Geowissenschaften. Aus der Signatur ist deutlich zu erkennen, dass weder er noch ich irgendwelche Rechte daran haben.

hambacher fperst karrikatur

… aber es ist eine Anregung für eine weitere Petitesse, die man tun könnte, wenn man denn etwas tun will.

Ich freue mich immer über Likes und Kommentare zu meinen Texten, muss aber darauf hinweisen, dass WordPress.com – ohne dass ich daran etwas ändern könnte — E-Mail und IP-Adresse der Kommentierenden mir mitteilt und die Daten speichert und verarbeitet. Ich selbst nutze die so erhobenen Daten nicht, schaue allenfalls mal in die Statistik (näheres unter Impressum und Datenschutz). Sollte das Löschen eines Kommentars im Nachhinein gewünscht werden, bitte eine Mail an fundevogelnest@posteo.de, meistens werde ich es innerhalb von 48 Stunden schaffen dieser Bitte nachzukommen.

3 Gedanken zu “Ganz klein

  1. Myriade September 21, 2018 / 8:43 pm

    Wirklich rührend ist dieser Cartoon !Und wirklich zutreffend und bedenkenswert deine Überlegungen zum Thema Verantwortung.

    Gefällt 3 Personen

  2. Anna-Lena September 21, 2018 / 9:17 pm

    Heute ist ein Tag, der mit dem ersten Herbststurm und den fallenden Blättern und dem lang ersehnten Regen ganz deutlich den Herbst ankündigt und genau das passt zu den Gedanken, die sich Richtung Jahresende bewegen.
    Vergänglichkeit und Stille, das Ruhen der Natur, und im Gegenzug unsere laute, schreiende und aufgebrachte Welt, die immer mehr aus den Fugen geraten will.

    Klar haben viele den Untergang der Welt schon prophezeit und wir können nicht aufhalten, was irgendwann mal kommen wird.

    Doch ich bin auch überzeugt, aus der Verantwortung heraus, die wir alle haben, können wir Entwicklungen verlangsamen, vielleicht sogar aufhalten und die Richtung ändern, jeder für sich in seiner kleinen Welt und wir gemeinsam, die wir die Zeichen der Zeit doch ernst nehmen.

    Der Cartoon hat eine klare Botschaft, auch ohne viele Worte.

    Danke und liebe Grüße,
    Anna-Lena

    Gefällt 3 Personen

  3. fundevogelnest September 22, 2018 / 3:35 pm

    Ja, wenigstens für uns in unserer kleinen Welt. Da lassen wir zumindest nicht nach.

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