Fahrstuhlgeschichten

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Der Vierjährige verzückt mich ganz ungemein, wenn er beharrlich nach Worten fischend, über Silben stolpernd von Glees erzählt. Nach Glees reist man im Gleeszug, der hat keine Sitze, sondern nur Schiebetüren, ganz viele Schiebetüren. Und massenhaft Klos gibt es in diesem Zug, alle mit Schiebetüren natürlich.

Glees selbst liegt am Strand und man schläft in Hochbetten. Vor allem aber gibt es in Glees Fahrstühle, viele Fahrstühle, die nie kaputt gehen und mit denen man jederzeit fahren darf, denn jede anständige Utopie beinhaltet Kritik an den herrschenden Verhältnissen und in denen fordert die Macht, wenn sie sich in einem Gebäude mit Fahrstuhl befindet, die Dinge zu tun, wegen derer sie das Gebäude mit dem Fahrstuhl aufgesucht hat.

Egal wieviel guten Willen ich mitbringe, ich finde Fahrstuhlfahren langweilig. Einmal allerdings habe ich eine Geburt in einem Fahrstuhl miterlebt. Zum Glück war es der Fahrstuhl der Entbindungsklinik, in dem das zarte Wesen neun Wochen zu früh leise jammernd zwischen die Beine seiner Mutter glitt, während die Zwillingsschwester im Bauch in eine üble Lage rutschte. Geistesgegenwärtig presste die Kinderärztin mit zwei Fingern die Nabelschnur zusammen, damit weder Blut vom Kind in die Mutter laufe oder andersrum oder von einem Zwilling in den anderen. Alles hätte fatale Konsequenzen haben können. Deshalb: Sollten sie je Zeuge einer Geburt zur Unzeit werden: Nabelschnur zuhalten bis das Kind abgenabelt ist. Und natürlich das Kindchen wärmen, das versuchte ich in jenem Fahrstuhl mit einem Handtuch und meinen eigenen Händen.

Gut 45 Minuten später kam das Zwillingskind per Notkaiserschnitt zur Welt und die Geschichte erwies sich als gute Geschichte, als eine mit einem guten Ende.

In einem anderen Krankenhausfahrstuhl in einem anderen Krankenhaus nahm eine geniale Kinderkrankenschwester dem Kleinen Fundevogel die Angst auf dem Weg zum Operationssaal. Sie legte ihm ihren Schlüssel in die Hand und zeigte, wie man damit den Fahrstuhl in Gang setzte. Kein aufmunterndes Wort, kein Beruhigungsmittel hätte so viel Wirkung gehabt.

Anna Nandyose Kabende dagegen war der Fahrstuhl nicht geheuer. Mit fast achtzig Jahren hatte erstmals ihre Heimatregion in Uganda verlassen, um einem CEO des Hamburger Kaffeeproduzenten Neumann gegenüberzutreten und von ihm das zu fordern, was sie schon auf zig anderen Wegen vergeblich versucht hatte: Die Rückgabe ihres Landes,  von dem sie 2001 mit Gewalt vertrieben worden war – dort wird nun auf 2500 Hektar Kaffee für die Neumanngruppe angebaut. Nicht alle im Örtchen Mubende überlebten den Landraub. Häuser wurden geplündert und Annas Ziegenstall wurde mitsamt den Ziegen darinnen niedergebrannt. Und wenn sie tausendfach im Recht gewesen wären, solche Taten werden niemals rechtens sein

Bei Annas Besuch röstete Neumann seinen Kaffee noch auf dem Grasbrook, heute steht dort mondän die Hafencity. Nach längerem Hin und Her war man bereit sie dort zu empfangen, vielleicht weil ein Journalist des Deutschlandfunks dabei war.

Entschlossen trat die alte Dame ein, aber den Fahrstuhl zu betreten brachte sie nicht über sich. Voller Respekt folgten der Angestellte von Neumann und unser kleiner Unterstützertrupp Annas würdevollem Aufstieg in die siebte Etage. Wenn Anna keinen Fahrstuhl wollte, wollten wir auch keinen. Denn an dem Tag waren wir alle Anna.

Wir folgten ihr auch wieder hinab. Der Konflikt ist mittlerweile im 17. Jahr und von einem guten Ende weit entfernt.

Vor einem anderen Fahrstuhl in einem anderen Land wäre ich am liebsten auf die Knie gefallen. Aus Dankbarkeit. Wir waren in Barcelona unterwegs, hatten uns verlaufen und das stark beschädigte Knie der Besten Freundin mochte keinen Schritt mehr tun und bestimmt keine Stufe mehr steigen – und unser Gastgeber wohnte im fünften Stock.  Umsichtig ruckelte uns der uralte Lift im schmiedeeisernen Käfig in eine von Engeln, außerirdischen Wesen und deren freundlichem Schöpfer bevölkerte Wohnung.

Soweit gereist bin ich lang nicht mehr und als ich im Winter mit der Herzensfreundin und dem Kleinen Fundevogel mit der Hamburger S-Bahn unterwegs war, war mir ganz und gar nicht nach niederknien zumute, eher nach einem kräftigen Tritt begleitet von einem Fluch, wie er sich in einem Text wie diesem nicht gehört.

Der Fahrstuhl, der vom Bahnsteig zum Ausgang führte war kaputt, laut einer Frau mit Zwillingskarre schon ewig. Wir waren einzig und allein deswegen mit dieser S-Bahn gefahren, weil der Fahrstuhl am Hauptbahnhof, der zur U-Bahn geführt hätte, auch nicht ging. Die Minusgrade krochen uns hämisch unter die Jacken. Zigmal schon habe ich fluchend und schwitzend Kinderwägen und Fahrräder Bahnhofstreppen rauf und runter geschleppt, meine eigenen und die von ungezählten Schicksalsgefährten dazu, aber der Rollstuhl mit der Herzensfreundin, der ist zu schwer.

Schwer beeindruckt war der Kleine Fundevogel, als die Herzensfreundin den Notruf betätigte. Der Herr in der Zentrale schickte uns keine starken Männer vorbei, sondern empfahl einfach weiterzufahren zu einer Station, in der der Fahrstuhl tat, was er tun sollte. Die Kälte kroch auch noch unter die Unterwäsche, aber wir kamen mit einem Stunden durch die Stadt mäandernden Bus irgendwann nach Hause.

Der Hamburger Verkehrsverbund unterhält seit Jahren eine Reihe von Baustellen und wirbt bombastisch damit, das Ziel Barrierefreiheit in absehbarer Zeit erreicht haben zu werden. Begrüßenswert ist das, sehr begrüßenswert, besonders wenn die zahlreichen installierten Aufzüge auch funktionieren.

Aber beim Lesen dieser tollen Barrierefreiheitpropagandabroschüren bleibt man hängen wie die Zunge an einem schadhaften Zahn im Mund: Barrierefreiheit wird verkauft wie extra gefederte Plüschsitze, WLAN auf allen Wegen oder eine Kaffeebar im Zug. Besondere Annehmlichkeit, extra Service, Luxus irgendwie. Und das ist Barrierefreiheit im öffentlichen Raum nun mal nicht. Sie macht das Reisen (Wählen, Ämter, Ärzte, Museen und Konzerthäuser aufsuchen …) nicht angenehmer, sondern für ziemlich viele Menschen erst möglich

Seit unserer Irrfahrt durch die Kälte will der Kleine Fundevogel bei jedem defekten Fahrstuhl umgehend den Notruf drücken. Vielleicht sollte ich es ihm erlauben und das Wort ergreifen: Hören Sie mal zu, der Fahrstuhl ist schon wieder defekt, das ist eine Menschenrechtsverletzung. Haben Sie davon schon mal was gehört? Nee, nee, meinetwegen brauchen ’se nicht kommen, ich nehme die Treppe, aber andere können das nicht. Also, nun mal los. Da fehlt mir mal wieder die nötige Keckheit. Ich sollte mir den Kleinen Fundevogel zum Vorbild nehmen.

Der Stadtteil direkt neben uns wurde in den 1990ern auf einem ehemaligen Kasernengelände gebaut. Viele barrierefreie Wohnungen sind dort entstanden und ein Mini-Einkaufszentrum. Über dem Supermarkt ist eine Praxis von drei Hausärztinnen, einem Zahnarzt und eine Praxis für Physiotherapie. Einen Fahrstuhl gibt es nicht. Die Praxen wollten zusammenlegen und einen Fahrstuhl außen an das Haus anbauen lassen, aber es heißt, das genehmigt der Architekt nicht, das ruiniert nämlich seine Schöpfung. Dass täglich Menschen auf seiner wohlgeschöpften Treppe stöhnen, straucheln, Schmerzen haben und ihre Gelenke ruinieren, scheint so in Ordnung zu gehen.

So einem Architekten erzählte ich gern von der Schule, die der Große Fundevogel besucht. Die hat Fritz Schumacher, ein höchst berühmter Kollege also, entworfen und sie steht unter Dekmalschutz. Trotzdem wurden Fahrstühle eingebaut. Fahrstühle, die ganz besonders langsam fahren, um die alte Bausubstanz nicht zu gefährden, aber sie fahren. Häufig ist Barrierefreiheit eine Frage der Kreativität.

Nicht jedes Privathaus hat einen Fahrstuhl, kein Grund Leute im Rollstuhl von einer Feier auszuschließen, da findet sich ein Park, ein Café…  Ganz bestimmt, das ist nur eine Frage der Kreativität. Und wenn alle, die ich dabei haben will ohne Fahrstuhl auskommen, ist es auch gut. Schade fände ich es, wenn es nichts Verwinkeltes, Verschnörkeltes mit Hintertreppchen mehr gäbe.

Aber nicht im öffentlichen Raum.

Mein Blog ist kein öffentlicher Raum und bestimmt nicht barrierefrei. Hier schreibe ich wie es mir in den Sinn kommt, wie ich es schön finde. Ich verspüre ehrlich gesagt wenig Neigung in leichter Sprache zu schreiben, mag das, was zwischen den Wörtern schwingt, das Verwinkelte und Verschnörkelte. Wer keine Freude an meinen Texten hat, wird sie nicht lesen, aber auch nicht vermissen.

Meine Tochter, die zu denen gehört, für die die leichte Sprache entwickelt wurde, kapituliert ohnehin vor den buntbebilderten Broschüren, die ihr den Sinn und Zweck einer gesetzlichen Betreuung barrierefrei nahe bringen wollen. Ich muss es ihr erklären, von Angesicht zu Angsicht mit unseren Nestworten, dann geht es, nur dann.

Aber das heißt ja nicht, dass leichte Sprache für andere Leute nicht sehr nützlich sein kann und ihnen Teilhabe ermöglicht. Im Krankenhaus, wo ich arbeite, ja da zumBeispiel gebe ich alles, um leicht verständlich zu sein, da, wo es um das vordergründige Verstehen geht, um eine Eindeutigkeit, die wenig Nuancen wagt und sich stets besorgt vergewissert, verstanden worden zu sein.

Eine Sprache, die über Abgründe reicht, hat deswegen ihre eigene Schönheit.

Ein Gebäude, das alle Menschen zu sich hereinlässt, kann nicht ganz hässlich sein, denn wer es erbaute, hat verstanden, das nur so ein wahrhaft menschliches Zusammensein möglich ist.

Und wenn der Fahrstuhl mal kaputt ist, muss er halt heute noch repariert werden. Man sollte sich nicht einreden lassen, dass das zuviel verlangt sei.


Barrierefreiheit beinhalte übrigens viel mehr als Fahrstühle und leichte Sprache, fragen Sie Ihre Mitmenschen einfach mal nach ihren Bedürfnissen oder schauen Sie sich in der Blogwelt um, da erfährt man vieles, was ich hier nur nachplappern könnte.

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7 Gedanken zu “Fahrstuhlgeschichten

  1. Myriade Oktober 5, 2018 / 12:19 am

    Nachdenken werde ich über deine Betrachtungen zur leichten Sprache. Das ist ein Thema mit dem ich mich überhaupt noch nie befasst habe ….

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    • fundevogelnest Oktober 6, 2018 / 8:38 pm

      Liebe Myriade,

      Ich gestehe, das wundert mich bei deinem Beruf. Aber vielleicht stelle ich mir deinen Beruf auch ganz anders vor, als er in Wirklichkeit ist.

      Mich machen Texte in leichter Sprache oft ungeduldig.Der ehemalige Lehrer des Fundevogels hatte diese Art zu kommunizieren so verinnerlicht, dass er auch beim Elternabend in Leichter Sprache sprach. Er konnte einen auch beim Elterngespräch für Pünklichkeit und ordentlich geputzt Schuhe loben.

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      • Myriade Oktober 6, 2018 / 8:43 pm

        Vielleicht stelle ich mir unter leichter Sprache auch was anderes vor. Natürlich schraube ich mein Sprachniveau manchmal herunter, wenn ich mit Leuten spreche, die nicht so gut Deutsch können, oder besonders schlecht im analytischen Denken sind, aber ich dachte, leichte Sprache wäre für Menschen mit beträchtlicher geistiger Behinderung

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  2. gkazakou Oktober 5, 2018 / 9:48 am

    Barrierefreiheit anderer Art -darüber haben Künstler oft nachgedacht: dass die meisten Menschen keinen Zugang zu Kunst finden, weil sie den Schritt durch die Tür in die „heiligen Hallen“ eines Museums oder oder Galerie scheuen. Die Tür wirkt auf sie als Barriere. Drum entstand nicht zuletzt die Straßenkunst … oder auch das Konzert auf der Straße.
    Und noch: Inzwischen entstehen eher mehr Barrieren als abgebaut werden. Früher war es völlig normal, dass Menschen verschiedenen Alters zusammen Freizeit verbrachten – heute werden Kinder und alte Leute vielfach ausgesondert. Man mag sie nicht dabeihaben, sie stören durch ihre bloße Anwesenheit die jungen Leute. So wie in anderen Ländern die Frauen an öffentlichen Orten stören…

    Solche Barrieren in den Köpfen und Traditionen von Menschen sind noch schwerer zu überwinden als die Bewegungsbarrieren auf den Straßen (womit ich das Problem keineswegs kleinreden möchte). .

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    • fundevogelnest Oktober 6, 2018 / 8:59 pm

      Danke, Gerda für diese wunderbare Ergänzung.
      Die Barrieren in den Köpfen und auf den Straßen hängen, glaube ich, sehr eng zusammen.
      In dem Moment, wo ich nicht mehr aussondern möchte, wird mir eine technische Lösung einfallen, die das möglich macht.
      Wer nicht will, redet das Problem riesengroß.
      Ich hatte den Text nicht noch länger machen wollen, als es mir eh schon geraten ist, aber ich habe auch lange darüber nachgedacht, was für mich Barrierefreiheit bedeutet. Zurzeit ist es dort, wo ich auch mit dem Kleinen Fundevogel und seinen Macken willkommen bin.
      Natürlich möchte ich ihn nicht zu einer literarischen Lesung oder so mitnehmen, sondern an Orte ,wo andere Leute auch ihre Kinder mitbringen.Ich finde auch nicht, dass er da alles dürfen sollte, aber ich fühle mich überall da willkommen, wo Leute, das Problem als solches sehen, und nicht alsCharakterzug von ihm („zukünftiger Hooligan“, oder so) oder mein Komplettversagen diskutieren, sondern praktisch mit draufschauen, wie es gelingen kann.
      Tage, an denen uns das geschenkt wird, leuchten.

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  3. violaetcetera Oktober 5, 2018 / 11:30 pm

    Oh ja, Barrieren sind auch ein großes Thema in meinem Leben. Ich habe schon so manches Beispiel für leichte Sprache gefunden, aber wirklich damit auseinander gesetzt habe ich mich damit noch nicht.

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  4. fundevogelnest Oktober 6, 2018 / 9:05 pm

    Ich finde den Zugang nicht so recht.Es kommt immer so etwas betuliches rüber.
    Ich neige immer dazu mich veräppelt zu fühlen und finde stellvertretend mein Kind, das so immer noch nichts versteht, gleich mitveräppelt.
    Wahrscheinlich müsste ich mal jemanden kennenlernen, dem damit wirklich geholfen ist.
    Was bedeutet Barrierefreiheit für dich persönlich?

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