Im Regen

Rundum warm war die Weihnachtslesung im Café Mehlbeere, angenehm geheizt und vor allem menschlich warm. Es brannte kein Feuer, aber es fühlte sich an, als säßen wir um eines herum. Vor der Lesung Geschichten und Erinnerungen ausgetauscht mit den befreundeten Damen des Cafés, gelacht und nachdenklich gewesen. Die Lesung selbst hat gefallen, das oberste Gebot du darfst dein Publikum nicht langweilen, scheine ich erfüllt zu haben.

Auf dem Weg zum Zuge peitschten uns eisige Böen genau entgegen, es regnete mit einer Macht, die gefühlt irgendwo zwischen echt norddeutschem Schietwedder und Apokalypse lag, die Herzensfreundin gab ihrem Rollstuhl die Sporen, der Große Fundevogel und ich rannten, nichtsdestotrotz klatschten hinterher drei Jeans eiskalt an den Beinen ihrer schlotternden Besitzerinnen.

Ein einzelner Mensch stand auf dem Bahnsteig und fragte, wann denn der Zug nach Kiel käme.

Nach Kiel? Im Leben fährt hier kein Zug nach Kiel, aber in ein paar Minuten kommt hier ein Zug nach Lübeck, da können Sie umsteigen.

Und von welchem Gleis fährt der Zug ab Lübeck?

Das weiß ich nicht, das müssen Sie selbst nachschauen.

Ich kann doch nicht lesen.

Wir steigen auch in Lübeck um, dann schauen wir für Sie.

Es erstaunte nicht, dass er kurz darauf nach Zigaretten fragte, die wir nicht hatten, dann nach Kleingeld, das wir nur in ausgesprochen kleiner Menge hatten. Er bot Bonbons an.

Im Zug folgte er uns wie ein angefütterter Hund, lümmelte sich auf ein paar Sitze in unserer Nähe. Der Fundevogel verkrümelte sich, kann sein, dass der Mann für unheimlich befunden wurde, kann sein, dass der Umstand „WLAN im Zug“ ungestört genossen werden wollte. Und ein ganzer Tag Nähe ist nach Fundevogelmaß ohnehin zuviel.

Solange die Herzensfreundin und ich redeten, schwieg unser Reisegefährte. Kaum hielten wir inne, erzählte er. Erzählte in kurzen, zusammenhanglos dargebotenen Häppchen

Dass es keine Fahrkarte habe, dass er aus seiner Wohnunterkunft geflogen sei, wegen eines einzelnen Bierchens, sagt er und dabei habe im doch keiner gesagt, dass das da verboten ist. Und der Betreuer habe gesagt das geschieht dir recht. In Kiel habe er Kumpels, wo er schlafen könne. Oder in Rendsburg. Oder in Eckernförde. Und im Bundeswehrschlafsack kann man auch jetzt gut draußen schlafen, in Kiel lassen sie einen in der Bahnhofshalle schlafen.

Er hatte kein Gepäck dabei

Beim Bund sei er gewesen, fuhr er fort, aber im nächsten Satz wurde ein Erziehungscamp daraus, da hat Vadder mich hingeschickt, weil ich schwer erziehbar bin, aber nun ist Vadder tot. In dem Erziehungscamp, das vielleicht auch der Bund war, hat er gelernt draußen zu schlafen, Unterstände zu bauen aus Holz und Planen. Viele Kumpels habe er da gefunden, die sind auch alle obdachlos, gut dass sie im Erziehungscamp gelernt haben, wie man draußen überlebt.

Ich blickte in sein junges, erstaunlich argloses Gesicht und in meinem Kopf formten sich drei Buchstaben, nein, es gehört sich nicht Fremden Diagnosen anzuhängen, aber FAS stand quasi in seinem Gesicht geschrieben. Auch wenn ich die Geschichte mit dem einzelnen Bierchen für ziemlich verharmlost halte – sehen seine Betreuer nicht, wie hilflos er ist oder haben sie nach unendlich vielen Versuchen seine Lage zu verbessern schlicht aufgegeben?

In Lübeck hole ich mir erstmal Tabak, sagte er und klimperte mit der kleinen Menge Kleingeld.

Nicht lieber was zu essen?

Nee, ich hatte einen Döner, das war voll krass, die Polizisten, die ihn wohl irgendwie aufgesammelt hatten, waren mit ihm im Streifenwagen zum Imbiss gefahren, hatten ihm einen Döner gekauft und ihn dann zum Bahnhof gefahren

Mir wird warm bei dem Gedanken an die Polizisten, die diesen Döner wohl aus eigener Tasche gezahlt hatten. Wir waren also nicht die einzigen, die sich von seiner Schutzlosigkeit ergreifen ließen, vielleicht ist das der Grund, dass er noch lebt.

Ob die Polizei ihm auch wirklich empfohlen hatte, schwarz zu fahren? Er wäre der klassische Fall, der wegen so einer Kleinigkeit ins Gefängnis kommt.

Ich überlegte zu schauen, was eine Fahrkarte von Kiel nach Lübeck wohl kosten mochte, ein Brötchen und ein warmer Tee waren vom noch im Portemonnaie weilenden Großgeld auf jeden Fall drin.

Aber dann stand da der Zug nach Kiel abfahrbereit und er rannte.

Die Bäckerei hatte sowieso schon geschlossen.

Im Zug nach Hamburg redeten die Herzensfreundin und ich über unsere sehr vielfältigen Erlebnisse mit gesetzlichen Betreuungen, auch was da alles so schief laufen kann.

Dann sprachen wir noch immer fröstelnd über die warmen Duschen, die wir gleich nehmen wollten, über den heißen Tee, die Wärmflaschen und das Bett.

Wir zumindest wurden die ganze Fahrt nicht kontrolliert.

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6 Gedanken zu “Im Regen

  1. Anna-Lena Dezember 9, 2018 / 7:25 pm

    Danke für diese berührende Begebenheit, die du mit uns teilst.
    Mit Grüßen zum 2. Adventsabend,
    Anna-Lena

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  2. Elke H. Speidel Dezember 9, 2018 / 9:56 pm

    Auf meiner Auswanderungsfahrt von Hermannstadt (Sibiu) nach Nürnberg wurden an den Grenzen sämtliche Abteile akribisch kontrolliert, unter den Bänken wurde mit Hilfe von Taschenlampen nach schwarzfahrenden Mitreisenden gesucht. Schwarzfahren war Anfang der 1970er Jahre jenseits des Eisernen Vorhangs ein Verbrechen, und es war ein Schwerverbrechen, wenn das ohne gültige Ausreisepapiere geschah. Wenn man einen Schwarzfahrer bei uns im Abteil erwischt hätte, wären wir, meine Familie und ich, wohl unserer prekären Ausreisepapiere verlustig gegangen. Staatenlos wären wir den jeweiligen Behörden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen. Wir zitterten jedes Mal, wenn diese Kontrollen kamen. In Wien mussten wir umsteigen, und irgendwo zwischen Wien und Passau wurde unter unserer Sitzbank tatsächlich ein betrunkener Schwarzfahrer entdeckt und aus dem Zug komplimentiert. Es war ein Schock für mich. Ich weiß nicht, was aus ihm wurde. Ich war damals viel zu erleichtert, dass der Vorfall erst in Österreich stattfand, um mir über irgendwen sonst Gedanken zu machen. Deine Geschichte hat mich aber daran erinnert und mir deutlich gemacht, wie herz- und erbarmungslos meine Einstellung aus Sicht des schwarzfahrenden Betrunkenen wohl war.

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    • fundevogelnest Dezember 11, 2018 / 11:23 pm

      Liebe Elke,
      Das erinnert an Reisen in bzw. durch die DDR, aber auch an der deutsch-dänischen Grenze habe ich mal mitbekommen, dass sogar die Verkleidungen im Zug abgenommen wurden, ich nehme an, dass da wohl ein konkreter Anlass vorlag.
      Ihr müsst ja unter unendlicher Anspannung gestanden haben, wer sollte da noch Mitgefühl für einen Betrunkenen aufbringen.
      Liebe Grüße
      Natalie

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      • Elke H. Speidel Dezember 12, 2018 / 8:49 am

        Ja, das ist korrekt. Die Anspannung war enorm. Das löscht wohl die Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl …

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  3. Mrs Postman Dezember 9, 2018 / 10:25 pm

    Ich habe kürzlich eine Doku über eine junge Frau gesehen, deren zwei erstgeborene Töchter FAS haben. Ich glaube, ihre älteste Tochter fiel in der Schule auf und ihr wurde geraten, die Tochter untersuchen zu lassen. Nach der Diagnose hat die Frau noch ein Kind bekommen, während dieser Schwangerschaft allerdings nicht getrunken. Im Laufe der Therapie stellte sich heraus, dass die Mutter selbst das FAS hat. Ich fand die Geschichte sehr berührend, man merkte, wie es die junge Frau quälte, dass sie ihren beiden Töchtern das quasi aktiv, wenn auch nicht wissentlich, angetan hatte. Und auch dass sie aufgrund ihrer eigenen Geschichte ihren Töchtern so wenig helfen kann. Ich wusste natürlich auch vorher, dass Alkohol für das ungeborene Kind schädlich ist, von dem Krankheitsbild FAS hatte ich allerdings noch nicht gehört.

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    • fundevogelnest Dezember 11, 2018 / 11:27 pm

      Liebe Bettina,
      den Film habe ich auch gesehen, irgendwie schmerzte mich wie entblösst diese Frau und ihr Chaos gezeigt wurden.

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