Das mittlere Glück (ABC-Etüde)

Die Wörterspende für die erste Etüdenrunde des Jahres 2019 stammt vom Etüdenerfinder Ludwig Zeidler, der sein geistiges Kind längst vertauensvoll in Christianes Arme gelegt hat.

Bei ihr (erster Link) finden sich alle eingetrudelten Geschichten zum Nachlesen, auch die Illustration hat sie erstellt. Die Etüden sind ein offenes Angebot, alle, die möchten, dürfen sich beteiligen, auch ohne eigenen Blog

Ludwig Zeidlers Worte sind auf ihre Art sehr aktuell, denn wateten wir nicht eben noch durch Geschenkpapierberge und Böllerreste? Mehr oder weniger abgerüstete Tannenbäume werden heute vom Sturm durch die Straße getrieben.

Abfallglück

Verfallsdatum

unschuldig

sollten mit höchstens 297 weiteren Wörtern zu einem Text beliebigen Genres verwoben werden.

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Das Glück, das richtige, das große Glück ist ein flüchtiger Geselle. Kaum sieht Nelli aus dem Augenwinkel ein Zipfelchen des Glückes Rocks, ist er schon wieder verschwunden wie eine Halluzination. Das kleine Glück ist in metallisch glänzendes Papier verpackt, manchmal in Croissants eingebacken und zergeht auf der Zunge. Das mittlere Glück findet Nelli auf der Straße, im Gebüsch und in grauen Tonnen. Sie kann an dem kleinen, weißen Tischchen nicht vorübergehen, auf gedrechselten Beinchen steht es unschuldig neben einem Container, wenn sie es nicht nach Hause trägt, wird es im Schlund des Müllautos zermalmt werden, wie diese friesische Lotsenwurst, Verfallsdatum heute, sie ist Veganerin, ja, aber wenn sie diese Proteine nicht an sich nimmt, wird ein Schwein einen noch sinnloseren Tod gestorben sein.

Sie braucht das nicht, sie ist nicht reich, aber das, was man auskömmlich nennt. Wenn schon einer am Wühlen ist, tritt sie zurück, freigiebig und auch erleichtert, denn der Abfall streckt ihr seine dürren Ärmchen entgegen, nimm mich mit, was habe ich getan, lass mich nicht unschuldig Müllberge vergrößern, den Welthunger potenzieren.

Abfallglück zieht seinesgleichen an, wer Nelli liebevoll über das Tischchen mit den gar niedlich gedrechselten Beinchen streichen sieht, bietet ihr nach dem nächsten Neukauf seine alte Couch an, ist wirklich gut erhalten, viel zu schade für den Müll und schon steht sie da, riecht nach Katze und der Durchgang zur Stube ist noch schmaler als zuvor.

Die neugekaufte Freundescouch ist gar zierlich, die stände dem Tischchen, auf dem die Pralinen stehen, die die Nachbarin geschenkt bekam und die zum Wegwerfen doch zu schade sind und so gar nicht nach kleinem Glück schmecken mögen.

Sie hätte das Geld, zu IKEA zu fahren und die zierliche Couch zu bezahlen, aber wie denn, die Wohnung ist viel zu voll.

Wie Pech klebt das mittlere Glück an Nellis Fingern.


Das ist kein autobiographischer Text, aber die süße Verlockung des mittleren Glücks ist mir nicht unbekannt. Man muss wachsam sein.

Über eine, der das nicht gelungen ist, schreibt aus der Sicht der kleinen Tochter  Axel Brauns in seinem berührenden und sprachlich ganz besonderen Buch Kraniche und Klopfer.

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12 Gedanken zu “Das mittlere Glück (ABC-Etüde)

  1. Myriade Januar 8, 2019 / 2:52 pm

    Dieses mittlere Glück kommt mir recht gefährlich vor.

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    • fundevogelnest Januar 9, 2019 / 9:31 pm

      Wie so vieles Glück wird es dann gefährlich, wenn man nicht weiß wann genug ist .
      Oder es weiß und trotzdem nicht lassen kann.
      Natalie

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      • Myriade Januar 9, 2019 / 9:34 pm

        Ja, ohne Loslassenkönnen ist das Leben nicht einfacher

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  2. dergl Januar 8, 2019 / 3:32 pm

    So schön! Sowohl stilistisch als auch inhaltlich.

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      • dergl Januar 10, 2019 / 9:55 am

        Nichts zu danken. Ich sage selten etwas, weil ich nicht weiß wie, nicht etwa weil ich nichts zu deinen zu sagen hätte (wenn ich es denn ausdrücken könnte.)

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  3. Christiane Januar 8, 2019 / 7:20 pm

    Zum Wegwerfen zu schade. In der Tat, das IST gefährlich, besonders, wenn man über kein Anwesen verfügt. Gefährlich, weil so oft wahr …

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    • fundevogelnest Januar 9, 2019 / 9:37 pm

      Ja, aber so völlig vollgemüllte Anwesen sind ja auch nicht schön.
      Ich hatte so eine Verwandte,eine Verwandte, die mir viel bedeutete, aber ihr Grundstück sah aus wie ein Schrottplatz, zu allem Überfluss sammelte sie auch noch ausrangierte Pferde, die in diesem zweifelhaften Abfallglück ihr Dasein fristeten , geliebt aber kein bisschen artgerecht gehalten.

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      • Christiane Januar 9, 2019 / 9:38 pm

        Balance, das Zauberwort. Immer wieder. Paracelsus: Die Dosis macht das Gift.

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  4. violaetcetera Januar 8, 2019 / 9:30 pm

    Ich kannte mal jemanden, der hat sich mit Sperrmüll seine erste Wohnung eingerichtet, und das nicht schlecht. Aber wie in deiner Geschichte konnte er mit dem Sammeln nicht aufhören, und seine Wohnung war irgendwann einfach übervoll von Abfallglück.
    Eine wunderschöne Momentaufnahme des Lebens hast du uns da präsentiert.

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    • fundevogelnest Januar 9, 2019 / 9:41 pm

      Wie gesagt, die Versuchung ist mir nicht fremd, aber bis jetzt habe ich sie ganz gut gezähmt.
      Natalie

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