Denken an N.

Vielleicht liegt es daran, dass gerade mein zweites Kind volljährig geworden ist, jedenfalls laufen meine Gedanken in schlaflosen Nächten kindheitenweit zurück.

Vielleicht werde ich auch einfach nur selbst alt.

Den größten Teil meiner eigenen Kindheit verbrachte ich einer Reihenhaussiedlung, Reihe um Reihe stand ins ehemalige Feld gebaut und jedes Scheibchen Haus mit Gärtchen war wie das andere. Das hatte den Vorteil, dass Nachbarskinder nie irgendwo fragen mussten, wo denn bitte das Klo sei. Manchmal war es auch verwirrend, denn es konnte sein, dass da, wo das Kinderzimmer hingehörte überraschenderweise das Elternschlafzimmer lag.

Unsere Nachbarn links hatten einen Hund, der wie ein kleiner Bär aussah.

Die Nachbarn rechts hatten ein Baby

Meine Mutter konnte die Nachbarn zur Rechten nicht ausstehen.

Außer dem Baby hatten sie noch ein Mädchen, die war so alt wie ich und wir gingen in die selbe Klasse. Ich kann mich erinnern, dass ich mit dem Mädchen im Gärtchen spielte, aber ich weiß nicht mehr was und auch nicht mehr, ob ich sie eigentlich leiden konnte oder wie sie aussah.

An einem warmen Tag schrie das Baby am offenen Fenster des Zimmers im ersten Stock, in dem in unserer Portion Haus ich mein Zimmer hatte. N. schrie lange, ausdauernd, verzweifelt. Herzzereißend. Keine tröstende Stimme war zu vernehmen. Nur ihr Schreien. Meine Mutter wurde ganz aufgebracht von dem Schreien. Schließlich klingelte sie bei den Nachbarn, aber außer N. war niemand zuhause.

Da machte meine Mutter das, was mir immer einfällt, wenn ich gefragt werde, was ich an ihr liebe. Sie kletterte von unserem Balkon auf den Nachbarsbalkon, schlüpfte durchs geöffnete Fenster und nahm N. in den Arm.

Als die Kleine wieder zur Ruhe gekommen war, verließ meine Mutter das Haus durch die Haustür und ich ließ sie bei uns wieder rein.

Jahre später war wieder so ein Sommertag, an dem die Fenster und Türen offen standen und die Nachbarn hören konnten, was sie sonst voreinander verbargen.

Ich kletterte über den Gartenzaun, fünfzig Pfennig in der Faust. Nur ein paar Schritte war es zu dem Supermarkt, der heute allenfalls als Minimarkt bezeichnet werden würde. Dort kaufte ich mir ein Eis in einem kleinen blauen Pappbecher mit einem Zirkuselefanten darauf. Im Becher war Vanilleeis und irgendein Fruchtschleim, darüber ein paar bunte Streusel und dazu ein kleiner Plastikschaber, der sich wunderbar als Puppenmesser eignete. Ich glaube das ganze hieß Bimbo, wohl wegen des Elefanten.

Vor der kleinen Ladenzeile waren Stufen, Hüpferstufen nannten wir sie, denn sie waren flach und für allerlei Hüpfspiele geeignet. Auf den Hüpferstufen traf ich N., die kein Baby mehr war, aber noch lange kein Schulkind. Mein Eis interessierte sie. Ja im Supermarkt hatte ich es gekauft, ja für fünfzig Pfennig und der kleine Plastikschaber war wirklich gut zu gebrauchen.

Kurz nach mir kletterte auch N. zurück über den Gartenzaun, ein Becherchen mit einem blauen Elefanten in der einen, ein famoses Puppenmesserchen in der anderen Hand.

Von der Terrasse der Nachbarportion Haus zur Rechten erklang sogleich wutentbranntes Schimpfen, klatschende Geräusche und wieder N.’s Heulen.

Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen Bimbo so angepriesen zu haben

Kurz darauf zogen unsere Nachbarn aus dem gemieteten Reihenhaus aus. Die, die ihr kleines Kind verhauen mussten, weil es statt Milch Eis gekauft hatte, hatten sich ein Einfamilienhaus gebaut.

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17 Gedanken zu “Denken an N.

  1. Sunnybee Februar 23, 2019 / 7:47 am

    Liebe Natalie,
    das ist wirklich herzzerreißend. Du hast die Gabe, die kleinen Szenen so zu beschreiben, dass sie mir ganz lebendig werden. Was wohl aus der kleinen N. geworden ist? Eine hartherzige Frau, die ihren eigenen Kindern ebenfalls ihre Zuneigung vorenthält oder eine Mutter, die gerade das besser machen möchte, was sie als Kind vermisst hat? Danke für diesen schönen Text am frühen Samstag Morgen!
    Sarah

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    • fundevogelnest Februar 24, 2019 / 7:48 pm

      Ich habe leider keine Ahnung wie N.’s Leben weiterging.
      Möglich erscheint mir beides.

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  2. puzzleblume Februar 23, 2019 / 9:13 am

    Dieses gnadenlose Schreienlassen von Babys gehörte ja sogar eine Zeitlang zum Erziehungskonzept, genau wie die Schläge. Der Erinnerungsbericht geht zu Herzen, wegen der Kerngeschichte und wegen der vielen kleinen Randerinnerungen, wie das Fragen nach dem Klo bei anderen Familien, wo man gerade in der Nähe spielte, oder so ein Eis mit begehrtem kleinem Schaber.

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    • fundevogelnest Februar 24, 2019 / 7:50 pm

      Schreien lassen wohl schon und schlimm genug, aber einen Säugling allein in der Wohnung lassen?
      Heutzutage ist das ein gewichtiges Argument, wenn es darum geht ein Kind aus der Familie zu nehmen.

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          • puzzleblume Februar 24, 2019 / 8:19 pm

            Ist fragwürdig, aber es war in meiner eigenen Babyzeit offenbar überhaupt keine diesbezügliche Besorgnis vorhanden.Meine Mutter ezählte mir, Ende der 50er sei es geradezu verpönt gewesen, sich „dauernd zu kümmern*. Stattdessen wurde nach Vierstundenplan gefüttert, gewickelt und dazwischen ignoriert. Sie sabgte, sie hätte hinter der Gardine gestanden und geheult, sich aber nicht getraut, es anders zu machen. Schliesslich musste ja auch der Haushalt laufen, nicht wahr? Vermutlich war das in Wirklichkeit eine ideologisch verbrämte Nachkriegs-Notlösungs-Erfindung, damals wurden viele Kinder stundenlang allein gelassen, weil es nicht genug Angehörige gab.

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          • fundevogelnest Februar 24, 2019 / 8:30 pm

            Vor allem war es eine von den Nazis geförderte Ideologie.
            Ich habe von meiner Oma ein Buch geerbt, was sie sich gekauft hatte als sie 1937 ihr erstes Kind bekam, da wird jedes Abweichen vom Zeitplan, jedes Kuscheln, Herumtragen, Küssen, sogar der Schnuller als letzter Trost als extrem schädlich bezeichnet.
            Und sowas hält sich.

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          • puzzleblume Februar 24, 2019 / 9:03 pm

            Das macht allerdings Sinn als Erklärung, diese Erziehung zur Härte und Verzicht auf Emotion bei Eltern und Kindern. (Ich hoffe, die Antwort rutscht an die richtige Stelle.)

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  3. Christiane Februar 23, 2019 / 9:34 am

    Sein Kind schlagen/vernachlässigen, aber bauen. Gang und gäbe vielleicht, aber mich macht es traurig.
    Danke für deine Erinnerungen.
    Liebe Grüße
    Christiane

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  4. Myriade Februar 23, 2019 / 10:33 am

    Ich bin für den Elternführerschein !!

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    • fundevogelnest Februar 24, 2019 / 7:58 pm

      Ja, das höre ich oft.
      Aber was macht man dann mit den Familien, die durch die Prüfung fallen ? Zwangssterilisieren ? Kinder prophlaktisch wegnehmen?
      Fragende Grüße
      Natalie

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      • Myriade Februar 24, 2019 / 8:01 pm

        Durchfallen dürfte natürlich niemand sondern man muss auf den guten Willen und die Lernfähigkeit setzen. Bei manchen ist es vielleicht hoffnungslos …… ich weiß es auch nicht

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        • fundevogelnest Februar 24, 2019 / 8:19 pm

          Bei Pflegekindern bekommt man oft mit, wieviel von Jugendamtsseite versucht wird, um -an sich erst mal löblich – die Kinder nicht aus der Familie nehmen zu müssen.
          Noch mal Familenhilfe, noch mal Mutter-Kind-Heim, noch eine Beratung, noch ein Kurs, noch eine Rückführung nach Kurzzeitpflege … bis am Ende die Kinder schwerst geschädigt sind.
          Da wünschte man sich mehr Entschlossenheit.

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  5. violaetcetera Februar 23, 2019 / 10:26 pm

    Ja, ich frage mich auch, was aus N geworden ist. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es bei einmal Schreienlassen und Hinternversohlen wegen Eis statt Milch kaufen geblieben ist…

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  6. fundevogelnest Februar 24, 2019 / 8:01 pm

    Vermutlich nicht.
    wie ich schrieb, im Sommer nur stehen die Fenster offen …
    Heutzutage hätte ich an Stelle meiner Mutter mehr gemacht,als nur über den Balkon zu klettern, aber Gewalt gegen Kinder wurde damals (Anfang der 70er) halt noch akzeptiert

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