Letzthin waren wir im Kino, der Große Fundevogel, die Fundevogelfreundin und ich. Den Film Systemsprenger wollte ich den Großen Fundevogel – volljährig oder nicht- auf gar keinen Fall allein schauen lassen. Zuviele Gespenster könnte die Geschichte der verlassenen und traumatisierten „Benni“ wecken, fürchtete ich. Die Neunjährige – beklemmend gut dargestellt von einer Zehnjährigen -, die so wenig Halt mehr in dieser Welt hat, dass ein Minimum an Zurückweisung und sei es nur eine Anweisung oder ein nicht jetzt, sondern später reicht, um sie Vernichtungsangst spüren zu lassen, sie regelrecht expoldieren zu lassen. Sie wird gewalttätig und läuft fort. Wehe dem oder der, die sich ihr in den Weg stellen. In ihrem Zorn und ihrer Verzweiflung hat sie keinen Zugang mehr zu ihrem Verstand oder ihrer sonst durchaus vorhandenen Empathie.
Nur Erwachsene hier, der Große Fundevogel sieht sich beklommen im Kinosaal um, den Rest des Films verbringen die Freundinnen eng aneinandergeschmiegt, Popcorn essend, scheinen meine gelegentlichen besorgten Blicke nicht wahrzunehmen, bin wohl gerade nicht notwendig und lasse mich in „Bennis“ schwer auszuhaltendes Leben ziehen.
Nach dem Film sagt der Große Fundevogel: Also den Film schau‘ ich mir nicht noch mal an, voll krass.
Auf dem Weg zur Bahn dann: Hättest du mich behalten, wenn ich so gewesen wäre?
Das sind so Fragen, bei denen die Seele ins Schlittern kommt. Hätte ich?
Ich weiß es nicht, ich hätte es zumindest versucht. Ich bin heilfroh, dass du bist wie du bist.
Eigentlich weiß ich es. „Benni“ hat in dem Film das getan, wovor ich zeitweilig die allergrößte Angst hatte: Als sie, die keine pädagogische Einrichtung längere Zeit aushält, in eine neue Pflegefamilie soll, alles gut aussieht, sie sich darauf freut, die Pflegemutter engagiert und empathisch rüberkommt, prügelt „Benni“ nach einer scheinbar nichtigen Enttäuschung auf das andere Kind der Pflegefamilie ein und verletzt es schwer.
Es gibt Richtlinien, die besagen, ein neues Pflegekind sollte als kleinstes, jüngstes Kind in eine Familie kommen, die natürliche Geschwisterfolge sollte eingehalten werden. Aber auch da wirkt der Film authentisch: Findet sich nichts anderes, sind Richtlinien nicht so wichtig ( nur so kam ich mit 48 Jahren zu einem Säugling, andere Freiwillige gab es schlichterdings nicht …)
Als der Große Fundevogel noch sehr klein war und ins Nest zog, war er unersättlich, nach Allem, nach Nahrung, nach Nähe, nach Wärme, nach Beschäftigung, nach permanenter Zuwendung. Er wollte mich ganz, aber ich hatte ja schon ein Kind, kein jüngeres, aber ein Grundschulkind, das auch seine Bedürnisse hat. Die Eifersucht lebte im Nest wie ein gewaltiger, fauchender Drache. Sein sengender Atem drang in jeden Winkel und stresste alle Beteiligten sehr. Wir mussten diesen Drachen permanent füttern, damit er niemanden anfiel. Der Name auch dieses Drachen lautete wahrscheinlich vernichtende Angst. Angst wieder übersehen zu werden, in der Not fallen gelassen zu werden, zurückgelassen zu werden. Brutal oder hinterlistig war unser Drache nicht, mit ihm und zwei Kinder zu leben war dennoch ein stetiges Balancieren.
Das kleine Kind nun ist eines, das seine Verzweiflung immer mal wieder körperlich ausdrückt, noch ist es klein und zart. Der jüngst eingeschlagene Weg damit umzugehen scheint der richtige zu sein, wenn das Ziel auch noch einige Kurven entfernt liegt. Viel wichtiger aber ist, dass alle anderen im Nest weder klein noch zart sind und zum Glück auch nicht ungewöhnlich geräuschempfindlich. Wir halten eine ganze Menge aus und haben obendrein ziemlich viel Spaß miteinander Mit einem weiteren kleinen Kind wäre das schwierig, man kann keine Verletzungen heilen, wenn gleichzeitig neue entstehen.
Kinder, bei denen es so weit gekommen ist, dass sie aus ihrer Familie genommen werden, haben in aller Regel viel entbehrt, manche haben körperlich gehungert. Die Seele ist fast bei allen ausgezehrt.
Daher sind ihre Bedürfnisse oft grenzenlos, die materiellen wie die immateriellen. Eimer mit einem Loch, nennt unsere Therapeutin das, ein Eimer, der dennoch aufgeüllt werden muss.
Und das ist manch ganz schön schwer auszuhalten, gerade wenn die vernichtende Angst sich gruselige Bahnen bricht wie Gewalttätigkeit, selbstverletztendes Verhalten oder auch das vorsorgliche Vermeiden von nahezu allem, einschließlich Duschen.
Solche Dinge auszuhalten, ist glaube ich ein Schlüssel zum Zueinanderfinden. Ich halte zu dir, ich halte dein unerträgliches Verhalten aus, weil ich weiß, auch du hast Unerträgliches ausgehalten.
Wer die Drachen aushält, hat eine Chance, die von ihnen geraubten Schätze zu finden.
Aber wieviel hält man aus? Wie groß dürfen Drachen sein? Und wieviel halten die aus, die sich diesen Weg nicht ausgesucht haben. Die anderen Kinder in der Familie. Der Familienhund. Fragile Streifenhörnchen und Hamster. Vielleicht auch die Nachbarn.
Ich weiß von einem Kind, das hat (erfolglos) versucht den Hund mit Tabletten zu vergiften. Das musste dann gehen, auch aus Sorge als nächstes könnte es das bei dem jüngeren Pflegekind der Familie probieren.
Wer mag diese Verantwortung tragen? Wer mag die Verantwortung tragen für ein Menschenkind, das versucht sich selbst ans Leben zu gehen? Welche Familie schafft ein 24-Stunden-Daueraufsicht? Wer Pflegefamilien verurteilt, die in so einer Lage die Reißleine ziehen, hat sie noch nicht gespürt, die sengende Macht der Vernichtungsangst.
Eine junge Frau aus dem Nestumfeld kam in der Pubertät schließlich in ein Heim, nun lebt sie als Erwachsene wieder daheim, durch die Distanz war ein Annähren wieder möglich geworden, ihre Eltern hatten die Trennung von ihr ausgehalten und ihr die Hand weiter hingehalten.
Es gab im Nest Zeiten der Zermürbung, da habe ich freitagnachmittags ernsthaft ausgerechnet, wieviel Stunden es noch sind, bis das eine oder das andere Kind wieder für ein paar Stunden in der Kita oder in der Schule verschwindet. Wirklich an Abbruch gedacht habe ich bei beiden Kindern nie. Eher Angst davor gehabt.
Eine Angst, die an entscheidener Stelle ausgesprochen hinderlich sein kann. Wenn ich nämlich nach Hilfe gesucht habe, die sich im Nest abspielenden Katastrophen geschildert haben, kam von fachlicher Seite häufig etwas in die Richtung, es muss ja nicht bleiben. Mir machte das jedes Mal Angst, Angst sie nehmen das Kind aus dem Nest, weil es bei uns nicht so richtig läuft, Angst, dass mir das Aushalten nicht zugetraut wird. Einmal versetzt der Amtsvormund mich in Panik, als er beim Zusamnenpacken seiner Akten en passant fallen ließ, über kurz oder lang wird man es in einer Einrichtung unterbringen müssen. Innerlich zitternd habe ich um ein Gespräch gebeten habe – mit dem Ergebnis, dass er noch jahrelang bei jeder Gelegenheit betonte das Kind sei im Nest gut aufgehoben. (Und außerdem hätte ich das Ganze falsch verstanden.)
Das Gefühl, Ämter machen es sich mit dem Wechsel manchmal zu leicht, blieb.
Uns blieb es erspart und mein großer Wunsch ist, dass das auch in Zukunft so bleiben möge, dass die Drachen zähmbar bleiben.
Ob ich „Benni“ auf Dauer ausgehalten hätte, weiß ich nicht.
Zum Glück ist sie nur eine Filmfigur, aber eine, die nachhängt, weil es viel zu viele Vorbilder für sie gibt.
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Wow, eine beeindruckende Schilderung, die mir ein Gefühl gibt für euren Umgang miteinander. Sicherlich oft schwierig, aber es klingt auch nach so viel Liebe und Verständnis füreinander, dass es gut tut, das zu lesen, und mich sehr anrührt.
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Danke, deine Worte rühren mich auch an.
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Ich habe mir den Film in der letzten Woche mit meinem jüngsten Sohn und seiner Freundin angesehen. Ich bin ivom Fach und höre wieder von den Systemsprengern, die zwei jungen Leute studieren im pädagogischen Bereich. Die Systemsprenger verdeutlichen die pädagogischen Grenzen und machen uns ohnmächtig. Soviele Fragen, auf die es da noch keine Antworten gibt. Ich finde, dass im Film diese Ohnmacht der Hilfssysteme sehr gut und menschlich dargestellt wird. So hart der Film ist, das Thema wurde sensibel angegangen. Es gibt zum Glück keine Schuldzuweisungen. Mögliche Hintergründe werden einfühlsam angedeutet. Der Film ist zu empfehlen.
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Ich finde den Film auch empfehlenswert.Gerade weil er nicht schwarz-weißmalt, sondern das Hilflose im Versagen zeigt.
Ich denke, es gäbe schon Lösungen für „Benni“, eine professionelle Pflegefamilie,wo sie das einzige oder zumindest mit Abstand jüngste Kind ist, mindestens zwei Erwachsene, die sich abwechseln können, eine Traumatherapie.
Aber klar,, so etwas muss man erstmal finden.
Schade fand ich, dass die Möglichkeit nicht mal anklang.
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