Die Geschichte von Julian und der Fee Cardámine habe ich vor vielen Jahren für meinen ältesten Sohn geschrieben, der sich eine Feengeschichte „für Jungs“ gewünscht hatte. Ich glaube am Ende machte sie mir fast mehr Spaß als ihm.
Die Fee Cardámine hatte sich in den letzten Wochen immer mal wieder in die Etüden geschlichen. Mit zwei Kindern im Coronahausarrest komme ich zurzeit viel zum Kneten, Basteln, Ringeltauben benennen, Lückentexte über Schädlingsbekämpfung ausfüllen, Textaufgaben lösen und sonstigen vergnüglichen Dingen, aber kaum zum Denken oder gar Schreiben. Aus diesem Anlass gibt es nun als Corona-Special jeden Tag ein Kapitel der ganzen Geschichte. (das heißt aber nicht, dass ich sonst gar nichts mehr schreiben will.)
Die Wände der 4c waren gelb gestrichen. Gelb warJulians Lieblingsfarbe, doch dieses Gelb war blass, trüb und dreckig dazu. Es war das traurigste Gelb der Welt. Das Schlimmste an der trauriggelben 4c war Dennis. Das Allerschlimmste an Dennis war, dass er seit zwei Wochen neben Julian saß.
Da bei einunddreißig Kindern in der Klasse immer einer übrig bleiben musste, hatte Julian fast das ganze Schuljahr allein an einem Zweiertisch neben dem Fenster gesessen. Ihm war es recht gewesen. Er war keiner, der unter der Tischplatte Karten tauschte oder den Unterricht störte.
Dennis quasselte, kicherte, kaute Papier zu Kugeln und spuckte diese ekligen Dinger quer durch den Raum. Lautstark stritt er sich noch mit denen, die zwei Reihen hinter ihm saßen. Dauernd schaute Frau Steffke jetzt zu ihnen herüber. Die Zeiten des unbehelligten Malens und Träumens waren vorbei.
Dennis konnte auf tausenderlei Art rülpsen. Mal klang es wie eine Flasche, die gerade entkorkt wurde, dann wie eine Schreckschusspistole oder ein verstopfter Abfluss. Am meisten wurde Dennis für den Furzrülpser bewundert, wenn er den losließ, rissen die Lehrer die Fenster auf.
Um Julian scherte Dennis sich kaum. Nur über seinen Radiergummi zog er her: „Guckt mal, der Floh …“,
„Floh“ wurde Julian oft genannt. Er war nämlich nicht nur mit Abstand der Älteste, sondern auch der Kleinste der Klasse. Vor allem hüpfte er häufig wie ein Flummi durch die Flure, besonders wenn er aufgeregt war oder an etwas Schönes dachte. Nichts hatte seinen Ruf „komisch“ zu sein so gefestigt wie diese Angewohnheit.
„Guckt mal, der Floh hat einen Mädchenradiergummi.“
Ein Pferd war auf dem Gummi abgebildet, schwarz wie Julians heißgeliebtes Meerschweinchen Mo.
„Ein Rappe“, hatte Wolfgang Schröter gesagt, als er Julian zwanzig dieser Radiergummis auf Vorrat geschenkt hatte. Im Kaufhof war ein ganzer Karton davon in den Container geflogen, vielleicht weil der Rappe ein bisschen schief über den Gummi galoppierte. Die ganze Schule wusste, dass Wolfgang Schröter in Müllcontainer stieg und nicht nur Radiergummis, sondern auch Essbares mitnahm. Er war nicht arm, er fand, dass die Menschen zu viel wegwarfen.
Seit Dennis’ missbilligenden Worten mochte Julian nicht mehr an seine Rappenradiergummihalde denken. Er fand das Pferdchen nun selbst kitschig und gewöhnte sich an, den Gummi mit dem Aufdruck nach unten in die Federtasche zu räumen. Wenigstens ahnte Dennis nicht, dass er von Wolfgang kam. Es war schlimm genug, dass jeder wusste, dass Julian bei dem stadtbekannten Müllsammler ein und aus ging. Man munkelte sogar, er habe schon Containeressen gekostet, denn Imke, seine Tagesmutter, war mit Wolfgang verheiratet.
Draußen regnete es in Strömen. Schon den ganzen Mai über hatte es gegossen und jetzt im Juni wurde es auch nicht trockener. Sämtliche Schuhe und Jacken von Julian fühlten sich klamm an, obwohl der gesamte Inhalt des Schrankes auf der Leine zu hängen schien. Jo erwog seit Wochen einen elektrischen Wäschetrockner zu kaufen. Mit den Worten „ist nicht gut für das Klima“, ließ sie es jedoch immer wieder bleiben.
Montagmorgen in der 4c hieß: „Erzähle, was du am Wochenende erlebt hast“.
Fernsehprogramme, Ausflüge und Omabesuche plätscherten wie der Regen an Julians Ohren vorbei. Er meldete sich nicht. Jo, seine Mutter, die niemals „Mama“ genannt werden durfte, war am Wochenende auf einer Tagung gewesen und er bei Familie Schröter.
Pamina Schröter war die ganze Zeit über ihn hergezogen, dabei hatte er nur mit ihr scherzen wollen: „Wenn ich einmal einer guten Fee begegne, wünsche ich mir, die Meerschweinchensprache zu verstehen. Dann kann ich für Pummel und dich als Übersetzer arbeiten.“
Pummel war Paminas Meerschweinchen. Sogar das hatte ihr Vater in einem Müllcontainer gefunden, winzig klein und fast erfroren hatte es einer Schachtel gelegen, zusammen mit seinen Brüdern Fummel und Stummel.
„Fast zwölf Jahre alt. Und glaubt noch an Feen! Spiel‘ doch im Sandkasten.“
Richtig angewidert hatte Pamina das gesagt, als sei im Sandkasten spielen nicht besser als neugeborene Meerschweinchen im Müll auszusetzen. Dieser Sonntagsstreit ging die 4c gar nichts an, schließlich war Pamina Schülerin der 4b.
Außerdem war es so schön ruhig. Der Platz neben ihm war leer, der Regen prasselte an die Scheiben, die ganze Klasse war leiser als sonst.
„Julian, was hast du erlebt?“
Also doch. Vor dem blöden Sonntag hat es einen Samstag gegeben, den Julian in seinem Ärger fast vergessen hatte . Wolfgang Schröter, der Hobbyimker, hatte ihm zum ersten Mal erlaubt, den gelben Kinderimkerhut aufzusetzen. An der Krempe dieses Hutes hing ein Plastikgitter, durchscheinend wie eine Tüllgardine. Dazu musste Julian einen Regenanzug mit Reißverschluss, fest verschnürte Gummistiefel und Paminas Glitzerfingerhandschuhe anziehen. Trotz dieser Schutzausrüstung waren ihm die herumsummenden Bienen ganz schön unheimlich gewesen, aber das ging die 4c nichts an.
„Wir haben die Rahmen mit den Honigwaben aus dem Stock genommen und geschaut, ob die Bienen irgendwo beginnen, Königinnen heranzuziehen. Die mussten wir ihnen leider wegnehmen, weil die Bienen sonst anfangen zu schwärmen. Schwärmende Bienen in Wohngebieten sind ein Problem, weil …“
Er zuckte zusammen. Die Klassenzimmertür wurde aufgerissen, laut, als bräche eine Bande Schurken mit einem Rammbock hindurch.
„Hallöchen“, Dennis strahlte Frau Steffke an, als ob er ihr einen Blumenstrauß überreichen würde. „Stellen Sie sich mal vor, der Papa hat sich nach dem Frühstück in die Badewanne gesetzt, um Formel Eins zu gucken. Sie wissen doch, dieser Cup in Malaysia ist immer morgens, wegen der Zeitverschiebung. Der Fernseher war so laut, dass Papa nicht gehört hat, wie ich geklopft habe, weil ich auf Klo musste und weil ich nicht auf dem Schulweg in die Hose pissen wollte …“
„Es ist gut, Dennis. Setz dich.“
Die 4c brüllte vor Lachen. Die schwärmenden Bienen waren verloren.
Endlich Schulschluss. Julian hatte Jo überredet, ihn heute im Hort zu entschuldigen und früh nach Hause zu kommen. Er hatte ordentlich quengeln müssen, bis sie zugegeben hatte, dass ihm das nach dem langen mutterlosen Wochenende zustand.
„Wer hat Fegedienst? Julian und Dennis. Dennis! Dennis!“
Dennis streckte Frau Steffke die Zunge raus und verschwand im Treppenhaus. Wütend sprintete die Lehrerin hinter ihm her.
Während die anderen Kinder Stühle hochstellten und Taschen packten, ergriff Julian den breiten Besen mit dem zu langen Stiel. Seinetwegen brauchte Dennis nicht eingefangen werden, er fegte wesentlich lieber allein. Sorgfältig kehrte er Anspitzreste und Kaugummipapier zusammen und war auch nicht zu faul, den Spalt unter den Heizkörpern mitzusäubern. Inzwischen war er allein im Klassenraum.
„Aua! Mein Kleid! Pass auf!“, fiepte plötzlich ein schrilles Stimmchen zu seinen Füßen.
Vor Schreck ließ er den Besen fallen.
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Jaaaaaa! Hach, und wenn ich das jetzt jeden Tag schreibe, dann sei es so: Ich freue mich auf die Fortsetzung! 😁🌞🌼❤️👍
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Jetzt sage ich auch Hach, das tut gut!
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Ha ! Ich weiß ! Die Fee … ;-!!!!!!
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