Salz der Erde

Kleines zartes Wesen in meinen Arm gelegt, zwanzig Minuten bloß, eine halbe Stunde vielleicht, so lang wie deine Mutter im Sprechzimmer des Arztes verweilen wird.

Dreizehn Tage bist du alt, gerade erst hast du den schmerzhaften Weg aus der warmen Geborgenheit hinter dich gebracht, einen der beiden schmerzlichen Wege, die keinem Menschen erspart bleiben.

Sonst aber bist du unversehrt. In Liebe empfangen, in voll ausgekosteter Sehnsucht erwartet, heil und zur rechten Stunde durch den Geburtskanal gerutscht, auf einer warmen Brust von liebkosenden Händen mütterlich, väterlich willkommen geheißen, mit süßer Milch aus dieser Brust genährt.

Mollige Strampler und leichte Sonnenhütchen, ein beheizbares Zuhause, bunte Mobilés, eine Kinderärztin und eine Hebamme, die bei Bedarf zu Rate gezogen werden können, vervollständigen das Nest aus Leibe und Fürsorge, in das du geboren wurdest.

Die Welt ist für dich ein guter Ort zum Sein.

Keinen Zweifel hast du, meine Arme, in die du gelegt wurdest, sind schützende, Arme, die dich zur rechten Zeit zurückgeben werden.

Über kurz oder lang wirst du die Umrisse der Monster erahnen, wird die Welt dir ihr ganzes vielfältiges Gesicht zeigen, das ist so unumgänglich wie geboren zu werden.

Vielleicht hast du Glück und es geschieht auf die sanfte Tour mit Zahnungsschmerzen und Impfgeschrei, Dreitagefieber und der ersten liebevoll-klaren Ansage deiner Eltern, die du versuchsweise gebissen hast und die ihr Bücher nicht zerfetzt sehen wollen. Du wirst unendlich viele Kugeln Eis nicht bekommen, einen überfahrenen Igel am Straßenrand liegen sehen und Stiefmütterchen auf das Grab der Nachbarin legen, auf deren Terrasse du deine ersten freien Schritte getan hast. Du wirst unbehaglich die tiefe Sorge deiner Eltern spüren, wenn sie eines Tages unbedacht in deiner Nähe das Radio eingeschaltet haben und die Nachrichten keine guten sind, die klamme Wehmut in der Stimme deiner Mutter, wenn sie sagt, die Schmetterlinge werden Jahr für Jahr weniger.

Du wirst jederzeit Zuflucht finden in den Armen deiner Eltern und ihre behutsamen Worte werden dir einen Weg durch das Gestrüpp deiner überwältigenden Gefühle weisen, nicht du bist falsch, die Welt ist es zuweilen. Gemeinsam fangt ihr den nächsten Igel auf dem Gehweg ein und tragt ihn über die Straße und du darfst Münzen in die Spendendose werfen von Brot für die Welt. Bockig und widerstrebend wirst du begreifen, dass Leiden zur Welt dazu gehört und deine Elten nicht alles gut werden lassen können und du wirst dennoch nicht aufhören zu vertrauen, denn sie haben ja nie so getan, als seien sie allmächtig,

Vielleicht wirst du nicht nur Dreitagefieber bekommen, sondern etwas Chronisches, Schmerzhaftes gar, wer weiß, was uns die nächsten Jahre noch heimsuchen wird, das dir deine Leichtigkeit nimmt, dein Vertrauen erschüttert, dich das Fürchten lehren wird. Die unerschütterliche Liebe deiner Eltern wird dich davor nicht bewahren können, aber sie wird machen, dass du sehen wirst, was falsch ist und was gut und dass du niemals dich selbst als das Falsche in dieser Welt empfinden wirst, nicht mal wenn du dich doch mal für eines deiner Worte oder eine deiner Taten schämen müsstest, denn du wirst dich dafür schämen und nicht für dein Sein.

Und unweigerlich wirst du auf uns treffen.

Denn wir, die wir die Welt nicht zuerst als freundlichen Ort erlebten, sind viele. Die, die nicht nur von bergenden Flügeln umfangen wurden, sondern von Anfang an den Geruch der Monster kennenlernten, den Schmerz, das Verlassensein, den Überlebenskampf, die Erniedrigung und die Leere des Universums, überschwemmen den Erdball. Getriebene in einer rastlosen Jagd nach Aufmerksamkeit, nach guten Taten, nach schlechten Taten, Likes und nicht zu habender Liebe. Zorn, der brodelnd alles niederreißt, wo das Monster längst seiner Wege gezogen ist. Hass auf welche, die bloß anders aussehen, anders lieben, scheinbar mehr haben oder noch seltsamere Götter anflehen als sie selbst. Die Gier mehr zu haben, als das Notwendige und ein wenig Extravagante dazu, die Gier noch an denen zu saugen, die nichts mehr haben, wird dich verwirren, abstoßen vielleicht.

Kann sein, dass du dich abwenden wirst, am Rande unbeirrt deinem Weg folgen wirst, aber so wie ich deine Eltern kenne, glaube ich, deine feste Stimme wird zu vernehmen sein, vielleicht glockendröhnend laut, vielleicht ganz leise in Taten im Geheimen, wer weiß, aber dem Guten zugewandt.

Du wirst Ermutigung und Ansporn sein, für jene, die sich den Monstern stellen und deinen Kindern wirst du ein Segen sein.

Kleines, du bist das Salz der Erde.

PS: Ja, ich weiß, es ist etwas idealtypisch gedacht und kein Mensch ist unzerstörbar, aber nachdem ich mich wochenlang mit der frühen Zerstörung beschäftigt habe, muss auch Platz für das Unversehrte sein. Das gibt es nämlich auch, es schreit nur nicht so laut.

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4 Gedanken zu “Salz der Erde

  1. Sarah (mutter-und-sohn.blog) September 2, 2020 / 9:35 am

    Liebe Natalie, ein sehr berührender Text, finde ich. 😊 Danke! Ja, es ist ein großes Glück, zu Beginn des Lebens diese Geborgenheit geschenkt zu bekommen – für viele Kinder leider kein selbstverständliches Glück. Aber ich glaube, wir können unser Vertrauen in die Welt auch später noch nähren. Die Liebe unserer Eltern ist der Grundstein, am Haus unseres Lebens bauen wir ab einem gewissen Alter selbst. Lg, Sarah

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    • fundevogelnest September 3, 2020 / 10:42 pm

      Liebe Sarah,
      Nachts nach dem Losschicken des Textes dachte ich genau das: Der Aspekt, dass wir auch mit schlechter Grundausstattung gerade und gesund durchs Leben gehen können, dass es Heilung gibt, das vieles in unserer Hand liegt, ist mir in diesem Text zu kurz geraten.

      Zum Glück, denn sonst wäre das Leben, wenn es nicht gut begonnen hat, ja quasi sinnlos.
      Es gibt dieses schöne, Robert Louis Stevenson zugeschriebene Zitat, man könne auch mit schlecht zugeteilten Karten ein gutes Spiel spielen.

      Ich knie mich gerade noch einmal ganz tief in das Thema Frühtraumatisierung hinein und weil die Fundevögel nun mal mein Innerstes berühren, dockt ihr Schmerz auch schnell an meinem an, wir haben alle drei kein optimales Blatt zugeteilt bekommen und das äußert sich durchaus nicht in drei verhunzten Leben , aber in einem in uns allen dreien grundsätzlich vorhanden Stress, der unser Nest in ganz schön heftige Schwankungen versetzt, weil wir alle von eher unsicheren Basen aus operieren und dieser Text ist das was-wäre-wenn -es -anders wäre…
      Wenn das Haus bauen, wie du es so schön nennst, leichter von Hand und Seele ginge, wenn der Grund stabiler wäre.

      Vielleicht schaffe ich es die Tage nochmal über die andere Art,zum „Salz der Erde“ zu werden zu schreiben ,über den holprigen Weg, der auch an eine guten Ort führen kann.
      Natalie

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      • Sarah (mutter-und-sohn.blog) September 4, 2020 / 6:55 pm

        Wow, wunderschön! Danke dir auch für diese Worte. Ich glaube, deinen Text zum „Salz der Erde“ und deinen Kommentar hebe ich mir auf. Vielleicht lese ich beides dann irgendwann meinem Sohn vor! 🙂 Herzliche Grüße! Sarah

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  2. fundevogelnest September 7, 2020 / 10:27 pm

    Oh, vielen Dank, jetzt werde ich ganz rot

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