Jensens Tod (ABC-Etüde)

Jensen ist tot, sagt mein Vater am Telefon. Saß tot auf der Bank. Den Kaffee und den Klöben noch vor sich. Ich hatte nach ihm geschaut, weil seine Hühner nicht eingesperrt waren. Ein sanfter Tod und das mit sechsundneunzig.

Dem ist nicht viel hinzuzufügen.

Line, könntest du die Tage kommen und helfen das Haus auszuräumen?Wer sonst sollte es tun?

Und die Beerdigung, Papa? Wer kümmert sich darum?

Ach, wir Nachbarn legen zusammen. Das passt schon.

Jensen war gewissermaßen ein Familienerbstück unseres Hofs. Fast sein ganzes Leben hatte er in dem kleinen Haus, das nicht viel mehr als eine bessere Baracke war, verbracht. Seine Mutter hatte bei meinen Ururgroßeltern als Magd angefangen, die Schwangerschaft hatte sie beim Vorstellungsgespräch wohl verschwiegen, aber man mochte sie und sie blieb dem Hof treu. Als ihr Sohn gerade zwanzig war, starb sie bei einem tragischen Unfall.

Er blieb.

Ein Sonderling war er dem Hörensagen nach immer gewesen, auch vor dem großen Krieg. Jeden Tag stand er zur selben Stunde auf, versorgte seine Hühner, drehte dann seine Runde durch den Ort, Punkt 15 Uhr saß er bei jedem Wetter auf der Gartenbank, trank dampfend heißen Kaffee und aß eine Schnitte Klöben dazu. Immer nur eine.

Er hatte niemals Besuch, fuhr niemals weg. Nur Heiligabend betrat er unsere Haus, stets brachte er einen Teller billigster Schokolade mit, aß mit uns Rotkohl und Gans und empfahl sich noch vor der Bescherung.

Er hatte keine Frau, keine Kinder, keine Freunde, war aber voll liebenswerter Höflichkeit. Er war unglaublich geschickt in technischen Dingen. Wie oft sah ich ihn ölverschmiert unter unserem alten Deutz liegen. Kein Trecker, kein Auto, keine Melkmaschine im Ort, die er nicht schon für kleines Geld wieder zum Laufen bekommen hatte.

Während der Ernte fuhr er die Mähdrescher, winters den Schneepflug. Er schichtete das Osterfeuer auf und schraubte den Tanzboden fürs Schützenfest zusammen.

Die Leute nahmen seine seltsam reduzierte Existenz hin wie die Gegebenheiten der Landschaft.

Heute, wo ich so etwas studiere, frage ich mich, was ihm widerfahren war, dass er sein Leben in ein so enges Korsett pressen musste. Unglücklich wirkte er nicht dabei, eher still vergnügt.

Komisch ist es das Häuschen zu betreten, das weder meine Eltern noch ich je von innen gesehen hatten. Das Bett ist gemacht, der Spülstein blank.

Bekam er eigentlich Rente?, frage ich meinen Vater.

Der zuckt die Achseln, Miete hat er immer gezahlt, habe sie allerdings nie erhöht. Das passte schon.

Und wenn er nicht hätte zahlen können, hätte er ihn für lau hier weiter wohnen lassen und behauptet das passe, denke ich mit einer plötzlichen Aufwallung von Zärtlichkeit für meinen Vater.

Wir finden dann aber doch noch einen Rentenbescheid, sorgfältig abgeheftet mit allen anderen Papieren. Keine Bücher, keinen Fernseher, aber achtzehn funkelnagelneue Bohrmaschinen, einhundertzweiundvierzig Hämmer, Bohrwinden, Stemmeisen, Maulschlüssel, Flachzangen, Kneifzangen und bestimmt an die tausend Schraubendreher für jedes erdenkliche rechts-oder linksdrehende Gewinde, für Mikroschräubchen und Kaliber, die eine Lokomotive zusammengehalten hätten. Das meiste fabrikneu und originalverpackt. Dazu unendlich viele Kataloge der einschlägigen Firmen.

Sein uns fremdes Glück.

Illustration zur aktuellen Extraetüdenrunde mit den Wörtern Korsett, rechtsdrehend, dampfen, Baracke, lau, widerfahren

Diesen sympathischen Eigenbrötler, der ganz bestimmt nicht Jensen hieß und wohl auf eigenem ererbten Land lebte, hat es wirklich gegeben. Er lebte im letzten Jahrhundert im mittleren Westen der USA und hinterließ eine gewaltige Wekzeugsammlung.

B.H. Elvén erzählt von ihm in seinem Buch „Herausforderndes Verhalten vermeiden“ und bemerkt dazu, dass dieser Mensch bei entsprechender Diagnostik höchstwahrscheinlich eine Autismusdiagnose erhalten hätte. Seine Besonderheit war weder für ihn noch für sein Umfeld ein Problem.

Elvén folgert daraus, dass viele belastende Verhaltensweisen von Menschen mit z.B. Autismus, geistiger Behinderung oder ADHS vermieden werden könnten, wenn man ihnen ein Umfeld verschafft, in dem sie gut leben und sich einbringen können.

Da der Mai fünf Sonntage hatte, ruft Christiane zur Extraetüde, in der die schönen Wörterspenden von Nina Bodenlosz und Bernd mit insgesamt 500 Wörtern noch einmal zum Glänzen gebracht werden können.

Herzlichen Dank allen Beteiligten.

(Nee,nee eigentlich gibt es keine speziellen Schraubendreher für Links-und Rechtsgewinde- klingt aber gut)

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24 Gedanken zu “Jensens Tod (ABC-Etüde)

  1. Myriade Juni 3, 2021 / 12:56 pm

    Die links- und rechtsdrehenden Gewinde haben mir auch Freude gemacht 🙂

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    • fundevogelnest Juni 5, 2021 / 6:20 pm

      Eigentlich bringen sie mich eher zur Verzweiflung. Wenn eine Schaube mit dem Rost der Jahre im Gewinde sich nicht rühren mag, wäre es schön wenigstens zu wissen in welche Richtung ich mich abmühen muss.
      Ich kenne die beiden Linksgewinde am Fahrrad zwar , aber trotzdem komme ich immer wieder ins Rätseln und lass mich verwirren …

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      • Olpo Olponator Juni 5, 2021 / 10:18 pm

        Eigentlich ist es ganz leicht zu merken: schreibst du ein R in Blockschrift, ziehst du den Bogen oben nach rechts. Jetzt müßtest du dir nur noch zusätzlich merken, daß dies die Richtung für ‚ZU‘ ist – denn eine Schraube muß man natürlich zuerst irgendwo einschrauben, damit man sie wieder öffnen kann, oder ;-? Dies gilt für das RRRRechtsgewinde. Logisch: umgekehrt für ein Linksgewinde. Nachdem man bei einer festsitzenden Schraube ja nicht erkennt wie ihr Drall ist, bevor man sie bewegen konnte, haben sich die Techniker etwas einfallen lassen: eine Schraube mit Linksgewinde sollte -symmetrisch- an drei der 6 (langen) Seitenkanten eine kleine Einkerbung haben, als hätte sie dort jemand mit einer kleinen Dreikantfeile extra angebracht. Oder ein L aufgeprägt haben, meist konvex. Wie gesagt, sollte – früher, als alles besser war und aus Holz, war das Standard in der Industrie.
        Ein Linksgewinde solltest du beim Fahrrad am linken Pedal haben und rechts im Tretlagergehäuse.
        Hat man eine Schraube vor sich und weiß nicht, ob sie ein Links- oder Rechtsgewinde hat, stellt man sie auf dem Kopf auf, sodaß sie alleine steht (sinngemäß) und betrachtet das Gewinde von der Seite: ‚hängt‘ es nach rechts, handelt es sich bei ihr um eine Linke Agentin. Die Rechten zeigen nach links. Verkehrte Welt.
        Rostlöser für festsitzende Schrauben bewirken Wunder – manche schaffen es gleich zu wirken, einige brauchen etwas länger. Es gibt jede Menge Produkte und ich kenne kein wirklich schlechtes. Mos2 (Molybdänsulfid) geben die meisten als Wirkstoff des ‚Kriechöles‘ an, ich selbst verwende WD40 von Würth, das gibt es beinahe überall und es ist hervorragend zur Reinigung von Motorradketten geeignet, deswegen… ich würde aber jedes andere Produkt ebenfalls nehmen.

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      • Myriade Juni 5, 2021 / 11:08 pm

        Das Problem kenne ich, bei mir ist links und rechts auch alles eins. Meine Hand merkt sich, in welche Richtung geschraubt werden muss, aber ob das rechts oder links ist, muss ich überlegen, Sekundenbruchteile aber trotzdem .. *seufz*

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  2. Christiane Juni 3, 2021 / 1:41 pm

    Klasse. Ja, das ging „früher“ noch, dass es mehr Nischen gab, in die man sich zurückziehen konnte, und deshalb nicht zwangsläufig ein Fall für irgendwelche Ämter wurde – und dass es Menschen gab, die beim „Leben und leben lassen“ zur Seite standen und Zeit hatten.
    Heute kommt mir alles so verkrampft und durchgetaktet vor, ich manchmal auch. 😟
    Gefällt mir sehr. 😁🌼👍
    Hab Dank für die Etüde – du bist ja schon wieder so früh dran! 😉
    Nachmittagskaffeegrüße 😁🧡🌼☁️☕🍩👍

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    • fundevogelnest Juni 5, 2021 / 6:22 pm

      Vor einem Arbeitswochenende ist Donnerstag für mich quasi Deadline. 😉

      Ob es „Früher“ besser war. Schwer zu sagen. Bei einem weniger wohlwollenden Umfeld hätte er auch der T4-Aktion zum Ofer fallen können, wenn wir von Geburtsjahrgang 1926 ausgehen.

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    • fundevogelnest Juni 5, 2021 / 7:10 pm

      Ja, aber der Wunsch nach Abenteuer und das Bedürfnis nach Sicherheit sind recht unterschiedlich gewichtet,

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  3. lachmitmaren Juni 3, 2021 / 2:36 pm

    Eine schöne Geschichte! Ein Umfeld, das tolerant ist, fremde Eigenheiten nicht negativ bewertet und frei davon ist, diese Eigenheiten (bzw. den zugehörigen Menschen) verändern zu wollen, sondern diesen Menschen wertschätzt, wie er ist. 🙂 Gefällt mir super!

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    • fundevogelnest Juni 5, 2021 / 8:42 pm

      Ich frage mich gerade, ob das immer gelingen kann.
      Hier geht es ja um einen an sich sehr liebenswerten Menschen, aber was ist wenn die Eigenheiten belastend werden…

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  4. geschichtenundmeer Juni 3, 2021 / 4:11 pm

    Gestern sprach ich kurz auf Twitter mit jemandem über Komfortzonen, und dass man sie nicht immer verlassen will, wofür es gute Gründe geben kann. Dieser Text passt dazu. Vielleicht hatte Jensen sich eine solche Komfortzone geschaffen, in der er (über-) leben konnte. Die Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse, vielleicht sollten wir wieder lernen, sie zu tolerieren.

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    • fundevogelnest Juni 5, 2021 / 8:45 pm

      Unbedingt.
      Schwierig wird es nur wenn die Komfortzonen miteinander kollidieren.
      Ein Paradebeispiel dafür wären gerade der Kleine Fundevogel und unsere Nachbarn, hier kann das Umfeld fast nur noch allen angepasst werden, wenn wir möglichst selten zu Hause sind.

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  5. stachelbeermond Juni 3, 2021 / 7:09 pm

    SO schön! Es muss wirklich nicht jede/r leben wie alle anderen. Es gibt viele Wege.

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  6. gkazakou Juni 4, 2021 / 12:21 pm

    Schön. Autisten haben bekanntlich oft herausragende mathematische oder technische Fähigkeiten.
    Das Schlimme ist, dass heute schon Kinder massenhaft mit einer oder mehreren Etiketten der endlos langen Liste von „psychischen Auffälligkeiten“ beklebt und eingeordnet werden. Es folgen die kostspieligen Besuche bei Therapeuten etc pp. Anstatt dass das Umfeld flexibel auf das Kind reagiert, solll das Kind an die für es unmögliche Situation angepasst werden,.

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    • Olpo Olponator Juni 4, 2021 / 5:31 pm

      Aber geh. Das Umfeld hat keine Zeit für Nischenexistenzen -und wie man weiter oben lesen kann, auch kaum Bewußtsein, was Autist sein bedeutet- daher werden aus(hilfloser)weise Komfortzonen gemutmaßt; Kultfilme wie zB Rain Man angesehen zu haben, reicht für tiefere Einblicke noch nicht aus…
      Die geistig eingefahrenen/schlafenen sind noch immer auf dem Stand der Psychologie von 1963, wo autistische Verhaltensmerkmale knapp vor Irrsinn eingeordnet wurden und der Rest jagt dem neuesten Hendi um 1000 Teuros nach, hat keine Zeit für zeitintensive Auseinandersetzungen mit Sonderlingen … bis auf ein paar wenige Menschgebliebene.

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    • fundevogelnest Juni 5, 2021 / 9:51 pm

      Liebe Gerda, für mich gibt es da keine eindeutige Antwort.
      Eine Diagnose kann auch hilfreich sein, um zu verstehen, um nicht zu glauben dass der die-oder derjenige einen ärgern möchte, sondern nicht anders kann.
      Oder auch nur die Flexibilität vor sich und anderen zu rechtfertigen.
      ZUmindest mir geht es so.

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  7. Olpo Olponator Juni 4, 2021 / 5:41 pm

    Coriolanisch begabte, rechts- bzw linksdrehende Schraubenzieher nach Bedarf gibt es mittlerweile natürlich, jeder Akkuschrauber kennt das Prinzip; das allerdings mit UmPOLung der elektrischen Fließrichtung erzeugt wird – leider steht noch immer nirgends drauf, in welcher Richtung auf oder zu liegt (bei Rechtsgewinden, die auch auf der südlichen Halbkugel dominierend sind) … 😉
    Die Geschichte habe ich sehr gerne gelesen.

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    • fundevogelnest Juni 5, 2021 / 8:58 pm

      Na, dann kann ich die Anmerkung ja streichen.
      Und ich bin schon wieder etwas weniger ungebildet.
      Vielen Dank.

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  8. Wortverdreher Juni 4, 2021 / 9:02 pm

    Hat das nicht jeder: Sein kleines privates Glück. Es wäre zumindest jedem zu wünschen.

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  9. fundevogelnest Juni 5, 2021 / 8:59 pm

    Hoffentlich.
    Das Schreiben von Etüden halten bestimmt viele auch für einen Spleen.
    oder Gespräche mit blauen Feen…

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