Ein Todesfall (ABC-Etüde)

Den Laden aufschließen, die Kasse öffnen, jeder Handgriff eingesponnen in den Kokon der Traurigkeit.

Was hast du?, fragt Marieke, die liebste Kollegin. Ach, schlecht geschlafen, Kopfschmerzen, einen Kaffee, dann ists besser. Wir öffnen gleich. Ich kann mich nicht verkrümeln. Ich werde ihr nicht von Micha erzählen, Marieke wird überhaupt nie erfahren, dass ich einen Bruder gehabt habe. Auf den spärlichen Fotos sieht sein Gesicht inzwischen aus wie ausgeliehen. Beim Zurechtrücken der Auslagen stelle ich mir vor in Mariekes Armen zu weinen. Es täte unendlich gut. Anständig wäre es nicht.

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Für Gerechtigkeit ist es nie zu spät (eine Einladung)

Noch einmal eine Einladung an die Lesenden aus Hamburg und umzu, sich am 2.10. mit Musik, Film und fair gehandeltem Kaffee einen Abend lang auf den Magellanterrassen in der Hafencity zu treffen. In Sichtweite des Hauptsitzes des Neumannkonzerns werden wir noch einmal an die gewaltsame Vertreibung zugunsten einer großen Kaffeeplantage in Uganda erinnern und die Forderung der Betroffenen nach Gerechtigkeit dem Neumannkonzern überbringen.

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Septemberseide

Kastaninenglanz und Kürbisgold. Kranichschrei und Wildgansruf.

Nur die Astern schlafen noch in ihren Knospen.

Wenn die Septembersonne scheint, die Hagebutten leuchten und die Spinnweben Juwelen tragen, verwandelt die Luft sich in ein seidenes Tuch, umschmeichelt die Haut, schmiegt sich weich in jede Spalte des Seins. Zu keiner anderen Zeit im Jahreskreis vermag die Luft so liebevoll zu umhüllen. Woran das liegen mag, das wüsste ich gern.

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Frühstück mit Tante Polly (ABC-Etüde)

Und dann stell ich mir vor, ich träfe mich mit Tante Polly im Café. Zum Frühstück vielleicht, dann sind unsere Jungs in der Schule und wir können kurz nachlassen in unserer Daueraufmerksamkeit, die Sorgen ein Käffchen lang in die Handtaschen stecken. Wir sollten unsere kostbare Freizeit nicht nur mit Putzen und Kochen verbringen. Wir brauchen Zuwendung, um durchhalten zu können.

Polly, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie in ein Café im Jahre 2021 einladen würde? Es ist keine gute Zeit, vielleicht ist es die letzte, aber ehrlich gesagt, Ihre ist mir noch unheimlicher. Die Sklaverei, der Rassismus, mir grauts allein schon beim Vorlesen. Dass Sie einen Sklaven haben, habe ich erst als erwachsene Leserin kapiert.

Wie sollt ich das denn wohl schaffen ohne den Jim, sagt sie, da hätt‘ ich gut reden mit meiner Spülmaschine. Und für Gesellschaftskritik habe sie keine Kraft.

Früher habe ich Sie ausgelacht, Polly, mit Ihrer komischen Haube waren Sie das hartnäckigste Hindernis bei Toms wunderbaren Abenteueren. Wie habe ich gejubelt, wenn er Sie reinlegen konnte.

Heute bin ich die lächerliche Figur, die mit zerzausten Haaren ihrem Kind nachrennt, voller Panik es könnt in ein Auto laufen, während Sie Ihres ertrunken im Schlick des Missisippi wähnen.

Wer sein Kind liebt, der züchigt es, die Bibel gibt Ihnen die Erziehung vor. Genutzt hat die Rute nichts, können Sie selbst nachlesen. Heute sind Schläge verboten wie die Sklaverei. Gottlob. Aber ich kenne den Zorn, der der zu großen Sorge entspringt viel zu gut.

Ihr Familienverhältnisse erscheinen mir lesend immer reichlich ominös. Sie, Tom, Sid, Mary. Wessen Kinder sind das alles? Haben die auch Väter?

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Neunter Neunter

Du hättest gestern etwas zum Welttag des alkoholgeschädigten Kindes schreiben sollen, nölt eine kleine nervige Stimme in mir, die mich dafür qua Blogthema für verpflichtet zu halten scheint.

Nee, da fällt mir gerade aber nix gescheites ein, habe mich schon immer schwer damit getan pünktlich zu irgendwelchen „Welttagen“ etwas auszuspucken. Neunter Neunter als Mahnung neun Monate lang nichts zu trinken, falls wer sich fragt, warum gestern und nicht morgen.

Außerdem war hier auch so genug los. Dass der Kleine Fundevogel seine erste Zahnlücke hat, wird erstmal gebührend fotographisch gewürdigt. Dann zockelt der Kleine Richtung Bauspielplatz und die geschätzte Mitimkerin und ich nutzen den schönen Spätsommertag, um Varroamilben zu zählen, jene biestigen kleinen Biester, die imstande sind ein Bienenvolk so auszusaugen, dass es stirbt.

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Pfützen (ABC-Etüde, Sommeredition)

Die Goldruten blühen, die Hühner mausern und wenn morgens der Wecker klingelt, müssen wir das Licht einschalten. Der Sommer ist zum Spätsommer geworden und es ist höchste Zeit die Sommerextraetüde in die virtuelle Welt zu entlassen. Sie ist nicht auf den letzten Drücker geschrieben, sondern begleitete mich die ganze Zeit wie ein mäandrierendes, verklausuliertes Tagebuch meines Sommers, auch wenn ich nichts aus der Geschichte erlebt habe, die Personen frei erfunden sind und ich noch lange nicht Großmutter bin.

Die Geschichte durfte so lang sein wie sie wollte und wurde in den letzten Tagen von übermäßig ausschweifend auf knapp achtfache Etüdenlänge zusammengekürzt.

Mindestens sieben der in der Graphik unten aufgelisteten Wörter mussten darin vorkommen, zehn sind es geworden, das Eigentor und das Wetterleuchten erlitten im Rahmen der Kürzung Platzverweise.

Und ein Gewässer musste vorkommen, ein real existierendes. Heikel wie eine Diva sah sich die Geschichte um, wo wir zu Fuß, per Fahrrad, Kanu oder Tretboot unsere Sommertage verbrachten: an der Berner Au, wo unser Garten liegt, auf der Außenalster, dem Kuhmühlenteich, am Oberlauf der Alster, an der Beste, der Trave und da wo die Pfingstbeek in die Ostsee mündet.

Siegerin war schließlich die Bille.

Meine Heimatstadt Hamburg liegt ja „an’ne Elbe, an’ne Alster, an’ne Bill'“, wobei die letztere die unbekannteste unter ihnen ist. Die Bille ist ein 65 km langer nördlicher Zufluß der Elbe. Sie entspringt bei Lienau in der Nähe von Trittau und durchfließt große Teile des Sachsenwaldes. Bei Reinbek ist sie zum Mühlteich aufgestaut, an dessen Ufer liegt ein Schloss, in Hamburg wird sie von vielen Brücken gequert, die wie in einem Kinderbuch Blaue Brücke, Rote Brücke, Braune Brücke …. heißen. Mitten in einem Industriegebiet mündet sie in Rothenburgsort bei der Brandeshofer Schleuse in die Elbe. Dort ist sie nur noch Industriekanal, aber im Sachsenwald fließt sie wild und unreguliert durch die Grundmoränen. Wir sind von Grande nach Aumühle am Fluß entlang gelaufen, die ganze Zeit durch den Wald. Eine Wanderung, die ich jeder und jedem ans Herz lege. In Aumühle gibt es dann bei Bedarf reichlich – ich glaube ziemlich teure – Restaurants und eine S-Bahnstation.

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Cardámines Garten (7)

Hej, da bist du ja wieder.

Lächelnd lässt die Frau Fundevogel die Fee Cardámine zur Balkontür herein. Ich habe dich vermisst.

Du weißt ja, ich bin eine Fee, die viel zu tun hat und Regen und Kälte machen mich langsam.

Und ich bin eine Frau, die unendlich viel zu tun hat und die durch so manches langsam gemacht wird. Blaubeere? Schokoladenstreusel? Warmer Tee?

Die Fee nimmt alles und sie, die Frau und der Erzählvogel berichten einander, wie es ihnen ergangen ist in diesem regenreichen Brombeermond.

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