Pfützen (ABC-Etüde, Sommeredition)

Die Goldruten blühen, die Hühner mausern und wenn morgens der Wecker klingelt, müssen wir das Licht einschalten. Der Sommer ist zum Spätsommer geworden und es ist höchste Zeit die Sommerextraetüde in die virtuelle Welt zu entlassen. Sie ist nicht auf den letzten Drücker geschrieben, sondern begleitete mich die ganze Zeit wie ein mäandrierendes, verklausuliertes Tagebuch meines Sommers, auch wenn ich nichts aus der Geschichte erlebt habe, die Personen frei erfunden sind und ich noch lange nicht Großmutter bin.

Die Geschichte durfte so lang sein wie sie wollte und wurde in den letzten Tagen von übermäßig ausschweifend auf knapp achtfache Etüdenlänge zusammengekürzt.

Mindestens sieben der in der Graphik unten aufgelisteten Wörter mussten darin vorkommen, zehn sind es geworden, das Eigentor und das Wetterleuchten erlitten im Rahmen der Kürzung Platzverweise.

Und ein Gewässer musste vorkommen, ein real existierendes. Heikel wie eine Diva sah sich die Geschichte um, wo wir zu Fuß, per Fahrrad, Kanu oder Tretboot unsere Sommertage verbrachten: an der Berner Au, wo unser Garten liegt, auf der Außenalster, dem Kuhmühlenteich, am Oberlauf der Alster, an der Beste, der Trave und da wo die Pfingstbeek in die Ostsee mündet.

Siegerin war schließlich die Bille.

Meine Heimatstadt Hamburg liegt ja „an’ne Elbe, an’ne Alster, an’ne Bill'“, wobei die letztere die unbekannteste unter ihnen ist. Die Bille ist ein 65 km langer nördlicher Zufluß der Elbe. Sie entspringt bei Lienau in der Nähe von Trittau und durchfließt große Teile des Sachsenwaldes. Bei Reinbek ist sie zum Mühlteich aufgestaut, an dessen Ufer liegt ein Schloss, in Hamburg wird sie von vielen Brücken gequert, die wie in einem Kinderbuch Blaue Brücke, Rote Brücke, Braune Brücke …. heißen. Mitten in einem Industriegebiet mündet sie in Rothenburgsort bei der Brandeshofer Schleuse in die Elbe. Dort ist sie nur noch Industriekanal, aber im Sachsenwald fließt sie wild und unreguliert durch die Grundmoränen. Wir sind von Grande nach Aumühle am Fluß entlang gelaufen, die ganze Zeit durch den Wald. Eine Wanderung, die ich jeder und jedem ans Herz lege. In Aumühle gibt es dann bei Bedarf reichlich – ich glaube ziemlich teure – Restaurants und eine S-Bahnstation.

Christiane, ich danke für dieses schöne Sommerspiel und allen Mitschreibenden, deren Texte mir den Sommer versüßt haben.

Na, habe ich euch zuviel versprochen? Vasanti keucht unter einem Rucksack, der sie um haupteslänge überragt. Schwitzend strahlt sie, wie nur sie es kann.

Ein anderes Strahlen springt mich an, nur von Handybildern bekannt. Ich schiebe es weg.

Knapp vierzig Minuten sind wir von der S-Bahn her gelaufen, erst an der Bille entlang und dann durch immer tiefer werdenden Wald. Ich bewundere Vasantis Orientierungssinn. Die Mädchen haben sich wacker gehalten, keinerlei Gequengel. Auch sie haben sich verändert. Sophie hat schnaufend ein Fahrrad behängt mit Wasserkanistern durch den matschigen Boden manövriert, unsere Lebenslinie zur Aussenwelt, sprich zum Supermarkt in Aumühle und der Möglichkeit bei den Besitzern des Grundstücks die Kanister aufzufüllen – und die Powerbanks, sonst hätte zumindest Sophie gestreikt.

Auf der Lichtung stehen zwei Bauwagen und eine kleine Hütte, auf deren Dach allerlei Grün und sogar Birken sprießen, die Schlammpfützen dazwischen sind selbst in Anbetracht dieses Regensommers gewaltig. Wir hätten Gummistiefel mitnehmen sollen.

In meinem Kopf formen sich Worte: Das also wird unsere Heimstatt sein, am Ende der Zeit. Woher bitte stammt so ein bombastischer Satz für ein paar Tage Urlaub?

Ich bin seltsam geworden.

Voll krass, sagt die Stimme der Jugend. Weil Vasanti den ersten Tag ganz auskosten wollte, haben die Mädchen letzte Nacht schon bei mir geschlafen. Nach dem Packen haben wir ferngesehen, eine Doku zum dreißigsten Jahrestag der Entdeckung der Gletschermumie Ötzi. Mehr als die beeindruckenden Erkenntnisse über uns Menschengeschlecht vor mehr als 5000 Jahren sitzt mir die ganz nebenbei geschilderte dramatische Schmelze des Similaungletschers im Nacken. Genau wie die Waldbrände all über all. Ende der Zeit, halt. Wahrscheinlich ist es ein Fortschritt diese Angst wieder zu spüren.

Früher waren Gletschermumienstorys Stoff für das mediale Sommerloch.

Inzwischen hat die ganze Welt Löcher.

Wir beschließen, dass Sophie und ich in die Hütte ziehen und Johanna und Vasanti je einen Bauwagen für sich bekommen.

Auf dem Esstisch der Hütte stehen kleine Pfützen. Die mutmaßlich nicht ökologisch liebevoll geplante, sondern unbeaufsichtigt gewucherte Dachbegrünung ist wohl ein bisschen viel für das Teerpappedach. Ich überlasse Sophie das kleine Zimmerchen und quartiere mich auf dem Schlafsofa in der Wohnküche ein. Erst zögere ich, dann stelle ich das Foto der Kleinen auf einen Beistelltisch. Ich drehe es zum Sofa, dann kann Sophie selbst entscheiden, ob sie sie es zur Kenntnis nehmen will oder nicht.

Wir trauen uns so vieles noch nicht.

Auf meinem Nachtschrank ist auch ’ne Pfütze, mault es von nebenan. Und die Matratze hat Hubbel. Und dass mit dem Handyempfang ist voll die Lüge gewesen. So ’n Müll kann echt nur deine komische Ökofreundin mieten. Ich seufze. Hoffentlich werden wir nicht allzu viel Regen haben. Das mit dem Handyempfang ist auch nicht gut. Meine Schwiegertochter wird Panik bekommen, selbst wenn wir uns täglich vom Supermarkt aus melden sollten. Verübeln kann ich es ihr nicht.

Denk an Ötzi, versuche ich Sophie aufzuheitern, dem wäre das hier wie ein Luxusresort vorgekommen.

Nee, wie Science Fiction oder ein Horrortrip, oder er hätte gedacht, er ist tot. Sophies und mein Humor passen seit jeher zusammen. Sie grinst. Ich öffne die Fenster. Irgendetwas kommt mir komisch vor, aber ich komme nicht dahinter.

Vasanti erbietet am Rand der Pfütze dem bedeckten Himmel den Sonnengruß.

Ich gehe zu Johanna, um zu sehen wie die Friday-For-Future-Aktivistin mit dem Mangel an Komfort klar kommt. In ihrem Bauwagen stehen auch Pfützen auf dem Boden. Mit gerunzelter Stirn starrt sie an die mit groben Brettern getäfelte Decke, auch ich kann keinen Tropfen ausmachen.

Eigentlich müsste es hier doch voll dumpf und schimmelig riechen, aber es riecht nicht mal staubig und muffig, eher wie Regen nach einem heißen Tag.

Das war es, was mich in der Hütte verwirrt hatte. Meine Enkelin ist klug, ich öffne auch ihr Fenster.

Vasanti und Sophie stehen auf dem grob gezimmerten Draußentisch und grüßen nun mit ihrem Smartphones die verschleierte Sonne. Ich sagte doch hier gibt es Empfang, Vasanti triumphiert. Meine Schwiegertochter wird beruhigt sein, wenigstens von ihren großen Töchtern noch zu hören.

Wenigstens ist auch so ein Wort geworden, das mich unweigerlich zum Weinen bringt, ich wende mich intensiv den Pfützen zu.

Später nachdem Johanna aufgeregt wie eine Sechsjährige am ersten Schultag das Feuer in der Küchenhexe anbekommen hat, der Handyempfangstisch sich unter veganen Köstlichkeiten plus Sophies mühsam ausgehandelten Extras gebogen hat, planschen die Mädchen wie junge Otter in der flachen Bille, bewerfen sich mit Schlamm, kreischen und quieken, haben ihre Coolness schneller abgestreift, als ich zu hoffen wagte.

Sie haben so viel aushalten müssen.

Und ich bin mir sicher, dass das längst nicht alles war.

Hach, das weckte die Lebensgeister, jauchzt Vasanti, streift die Schuhe ab und springt in Shorts und Bluse zwischen die Mädchen, die sich nicht peinlich berührt abwenden, sondern ihr eine gehörige Schlammladung verpassen.

Komm du auch, ruft Vasanti. Deine Traurigkeit hilft niemanden.

Und diese schrille Fröhlichkeit, wem hilft die? Die Welt ist, wie sie ist, der sind meine Gefühle wurscht.

Nee Frauke, lass man, komisch, dass er mir ausgerechnet jetzt wieder rausgerutscht ist, der Name, den sie trug, als wir noch beste Schulfreundinnen waren, bevor sie fortging, um sich vom Guru mit der Rolls-Royce-Flotte umbenennen zu lassen. Was hatten wir uns alle darüber erregt, wie übel nahmen wir das alles, egal wie gut ihre Discos und die vegetarischen Restaurants waren.

Im Nachhinen erscheint mir das alles wie ein Spiel. Als hätten wir keine Ahnung gehabt und würden erst jetzt langsam mit den Enkeln erwachsen. Ich suche mir ein Gebüsch zum Pinkeln und setze mich dann etwas weiter längs auf einen Findling und stecke die Füße ins Wasser. Scharen von Wasserläufern huschen herum. Weil sie wissen wollte, warum die nicht untergehen, erklärte ich einst Johanna mit einer Tasse Wasser, einer Nadel und einem Tropfen Spüly das Prinzip der Oberflächenspannung.

Dann heule ich los, um all das Vergangene, um die Kleine natürlich, die im letzten Frühjahr geboren wurde, nur um ein Jahr lang zu sterben. Dem verfluchten Virus wegen hielt ich sie das erste Mal im Arm, da war sie schon kalt. Für ihre Schwestern machte das Krankenhaus immer mal wieder Ausnahmen.

Aber richtig fühlte sich das alles nicht an.

Man begleitet seine beatmete Enkelin auf Handyvideos in den Tod, schaut im Fernsehen den Wäldern der Welt beim Verbrennen zu und weist virtuell hie und da Geld an, um das ganze um ein paar Minuten aufzuhalten. Ob Ötzi diese Version der Zukunft für erstrebenswert gehalten hätte?

Die Neigung der Menschen einander zu erschießen – seine Todesursache – ist ihnen im Verlauf der Jahrtausende nicht abhanden gekommen. Aber vielleicht hätte er gern per Smartphone einen Notarzt bestellt. Oder sich wenigstens von seinen Lieben verabschiedet.

Hätte er eine Tochter mit den Fehlbildungen der Kleinen gehabt, wäre sie in der ersten Minuten nach der Geburt in seinen Armen gestorben. Oder in denen seiner Mutter.

Auch wenn sie mich regelmäßig die Augen rollen lässt: Ich neide Vasanti ihre Fähigkeit, in allem einen Sinn zu sehen, wenn ich nur nicht glaubte, sie mache sich das alles nur vor.

Zu grausam ist mir die Willkür des Seins- vor 5000 Jahren so. Heute halt anders.

Ich kippe mir literweise Bille ins Gesicht. Es gibt Tränen, die sollte man anderen ersparen. Mein Hintern ist feucht und ich frage mich wie auf einem runden Stein an einem trockenen Tag unbemerkt eine Pfütze gestanden haben kann. Flussaufwärts wate ich zu den anderen. Träge wie Robben trocknen sie am Uferrand und stürzen sich begeistert auf die Tüte Haribo, die ich heimlich eingesteckt hatte. Manchmal gelingt es mir die Oma zu sein, die ich immer sein wollte.

Stunde um Stunde, Tag für Tag geben wir uns mehr dem Rhythmus des Waldes und des Flusses hin. Es ist nicht mehr die Jahreszeit der ausgedehnten morgendlichen Konzerte der Singvögel, aber der Schrei der Graureiher und die Warnrufe von Eichelhäher und Krähe ersetzen die Weckfunktion unserer Handys. Wir pflücken Himbeeren vor dem Frühstück, verirren uns regelmäßig im Wald und finden wieder heraus. Wir kehren in Dorfkrügen und uns langsam skurril erscheinenden Pizzerien ein und senden von dort beruhigende WhatsApps an Sohn und Schwiegertochter.

Danke, uns tut die Pause gut, funken sie in den Wald.

Sophie mault weiter über mangelnden Komfort, darüber dass wir alle völlig mückenzerstochen seien und keine von euch tollen Frauen hat eine Fliegenklatsche eingepackt, aber irgendwie fehlt ihr die Nachdrücklichkeit. Sie kann ja hier als Jüngste nicht einfach ihr Gesicht verlieren, sagt Vasanti.

Einmal als Sophie und ich eng aneinandergekuschelt am Fluss sitzten, hören wir Johanna schreien. Du kannst doch einen der so etwas sagt nicht gut finden, man weiß doch wo das unter Hitler hingeführt hat, kreischt sie, dass die Vögel Reißaus nehmen. Vasanti relativiert und beschwichtigt und später berichtet mir Johanna aufgebracht von einem Zitat Oshos, in dem er sich für das Töten behinderter Kinder ausgesprochen haben soll. Mit diesen Smartphones wissen die Jugendlichen viel zu viel.

Kanntest du das Zitat?, frage ich Vasanti später.

Ach hör mir auf, sagt sie. Du weißt, wie ich für die Kleine gebetet habe.

Und ziemlich viel von alter Seele und deren Bestimmung hat sie geschwafelt, aber das sage ich nicht. Sie wirkt schon so entsetzlich beschämt.

Am Abend gießt Sophie ein Glas Apfelsaft in das Feuer und sagt mit glasklarer Stimme: Auf unsere Kleine.

Unabgesprochen stehen wir auf und heben unsere nicht zusammenpassenden Tassen ohne Henkel.

Und dann reden wir über sie, wie wir noch nie über sie geredet haben. Ausufernd tragen wir ihre Marotten und Eigenheiten zusammen, jede steuert mühsam durch die Coronasperre geschmuggelte Häppchen bei. Sie mochte sich gern im Spiegel anschauen, dem von mir gestrickten Kuscheltiger den Schwanz kneten. Sie hasste es gewaschen zu werden und liebte es die Haare gebürstet zu bekommen. Beim Töröhh von Benjamin Blümchen hat sie oft gelacht, die von Vasanti gespendete Meditationsmusik hielt sie zuverlässig vom Einschlafen ab. Rolf Zukowski mochte sie gar nicht. Einmal hat sie Sophie auf den Schoß gepinkelt. Wir lachen ziemlich viel. Wir lutschen die Handyakkus leer, weil jede jeder ihre heimlich gespeicherten Lieblingsfotos präsentieren muss.

Johanna erzählt von ihrer „Bezugsgruppe“ bei Friday-For -Future, die hat sich letztes Jahr den Vornamen der Kleinen gegeben, den Namen, den wir kaum je benutzten, obwohl er klangvoll wie das Rauschen eines Flusses ist. Erzählt das nicht Mama, bittet sie uns, die würde das nicht verstehen und weinen. Ich weine auch, aber vor Rührung , dass die angeblich selbstverliebte hedonistische Jugend nicht nur für unser aller Zukunft auf die Straße geht, sondern auch liebevoll Anteil nimmt am Leben und Sterben der unbekannten kleinen Schwester einer Kameradin.

Und keine sagt am verlöschenden Feuer, dass es besser so gewesen sei.

Was ist das?, wir folgen Sophies Blick und sind verzaubert. Leuchtende Punkte tanzen zwischen der ständig wachsenden Schlammpfütze und dem Waldessaum, immer wieder stürzen sie sich auf andere ihnen entgegenschimmernde Lichtpunke am Boden.

Wir können uns nicht sattsehen am Tanz der Glühwürmchen, ihrer letzten zauberhaften liebestollen Anstrengung, damit ihre Art erhalten bleibt, wenn sie in wenigen Tagen als Einzelwesen vergehen werden. Behutsam um nicht die verwundbare Schönheit dieses Abends zu verscheuchen, ziehen wir uns in unsere irdischen Gehäuse zurück, wischen noch rasch die geheimnisvollen Pfützen auf, die stets frisch und nicht moderig riechen.

Noch ist es nicht gelungen, das kalte und somit klimaneutrale Licht der Glühwürmchen technisch nachzuahmen, wahrscheinlich werden dem Insektensterben zum Opfer gefallen sein, bevor man hinter ihr Geheimnis gekommen ist, referiert Johanna beim morgendlichen Anfeuern und ich denke wieder an die Heimstatt am Ende der Zeit.

Man kann inzwischen nicht mehr trockenen Fußes von einem Bauwagen zum anderen kommen, obwohl wir nur sporadisch Regen hatten, es muss irgendwie ein Grundwasserproblem sein.

Vasanti versucht sich zu entsinnen, aber letztlich waren die vergangenen Sommer so trocken, dass sich jeder Vergleich erübrigt.

Wir müssen uns gegenseitig ermahnen regelmäßig bei der Familie Laut zu geben, wir sind uns genug, reden und reden, endlich ohne Scheu über die Kleine, über Glühwürmchen, Coronaimpfungen mit all ihren Fürs (Johanna) und Widers (Vasanti), Ötzi, selbst dem Zeitenlauf sehe ich im noch unversehrt erscheinenden Wald ein wenig furchtloser entgegen.

Wir haben so vieles überlebt.

Am letzten Abend gehen die Mädchen im Dunkeln baden. Wir haben keine Furcht um sie. Vasanti und ich rücken näher zusammen. Leider keine Glühwürmchen zu sehen. Sie schmiegt sich an mich. Lang ist es her. Du und die Frauke, ihr seid doch lesbisch, hatte es in der Schule gehießen und es war ein Schimpfwort gewesen, wo doch die Liebe niemals hoch genug gepriesen werden kann. Auch wenn da nie sexuelle Anziehung war, ich meinen Mann hatte und sie einen unendlichen Reigen heißen Begehrens zwischen Indien, hier und andernorts, wir waren uns immer näher gewesen als viele Paare.

Weißt du, wofür ich dich bewundere?

Sie? Mich?

Dass du es aushältst ohne Glauben an ein Davor und Danach. Dass du und auch die Mädchen dieses NOCH aushaltet, ohne eine Kraft, die euch hält.

Ja, sage ich bloß und weine in ihren Schoß.

Ohne Wecker, ohne Verabredung stehen im ersten Frühlicht unseres letzen Tages an unserer Lieblingstelle an der Bille. Mit angehaltenem Atem sehen wir einer Ricke und ihrem halbwüchsigen Kitz beim Trinken zu.

Als die Tiere verschwunden sind und wir langsam unsere Köpfe wieder zu drehen wagem, steht SIE da. Nicht größer als eine Fünfjährige. Blaugrün ist ihr Haar, Wasser rinnt heraus als sei sie ein Quell. Trägt sie ein Schuppenkleid oder ein aus Schuppen gearbeitetes Kleid? Sie sieht uns in die Augen. Jeder von uns. Nein, viel tiefer sieht sie hinein. Für mich fühlt es sich an wie ein Auftrag, ein Auftrag sich dem NOCH viel entschiedener entgegen zu werfen und der Verheißung doch nicht ganz allein zu sein.

Dann ist sie fort, während eines Wimpernschlags muss sie untergetaucht sein.

Geht man davon aus, dass sich nicht vier Menschen auf einmal dasselbe einbilden können, war sie echt.

So echt wie die Pfützen.

Melancholisch wischen wir die Lachen beim Packen unserer Sachen ein letztes Mal auf. Vorsichtig lecke ich über die Tischplatte, süßes, köstliches Wasser ist es.

Ich sehe Sophie ein wenig Wasser aus der wuchernden Schlammpfütze in ein Marmeladengläschen füllen.

Wir alle sind voller Worte, die wir noch nicht formulieren können, voller Ideen noch ohne Form. Entschlossener.

Es fühlt sich fast an wie Zuversicht.

Irgendwie gesegnet, benennt es Johanna.

In uns gekehrt laufen wir zur Bahn.

Die Ricke und ihr Kitz kreuzen noch einmal unseren Weg.


Ich hatte einen Grund, mich noch einmal an die inzwischen unsichtbar lebenden Sannyasins zu erinnern. Im Gespräch mit meinen Kolleginnen, die zwanzig, dreißig Jahre jünger sind als ich, stellte ich fest, dass ihnen Bhagvan, Osho oder wie immer er gerade hieß, nichts sagte. Falls es Ihnen auch so geht, bedienen Sie sich einer Suchmaschine ihres Vertrauens, da kommt reichlich.

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17 Gedanken zu “Pfützen (ABC-Etüde, Sommeredition)

  1. Christiane September 2, 2021 / 11:12 am

    Gerade verdrücke ich ein paar Tränchen, weil das so schön ist und so traurig und so tief geht. ❤
    Danke so sehr.
    Und jetzt lese ich sie noch mal.
    Liebe Grüße
    Christiane, berührt und sprachlos 😉

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    • kommunikatz September 2, 2021 / 8:09 pm

      Ganz genau so geht es mir auch. Was für eine wunderschöne Geschichte!

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    • fundevogelnest September 3, 2021 / 7:14 am

      Liebe Christiane ,
      Nun ich bin ich ganz gerührt, so ein schöner Moment, wenn den eigenen Worten das Anrühren gelingt.

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  2. Myriade September 2, 2021 / 2:24 pm

    Am Ende der Zeit ist eine Formulierung, die so richtig reinsaugt in eine spirituelle Atmosphäre und dazu das reinigende Wasser und die verirrte Frauke als Gegenmodell. Und doch alles am Boden der Tatsachen wie umbedingt Handyempfang für die Jugendlichen. Zur Inspiration gehörte wohl auch das Baby, das euch kürzlich gestorben ist. Eine Geschichte, die alle Wörter ganz organisch integriert. Mein Kompliment🌹🌹

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    • fundevogelnest September 3, 2021 / 7:31 am

      So spannend zu lesen, wie andere Texte wahrnehmen, ja man kann das als spirituelle Atmosphäre bezeichnen und das allgegegenwärtige Wasser als reinigend, aber da wäre ich selbst nie drauf gekommen. Danke für den Blick von außen.
      Und ob Frauke/Vasanti sich verirrt hat oder nur einen anderen, mir fremden Weg genommen hat, lasse ich mal offen.
      Ja, es war auch eine verfremdete Würdigung unserer kleinen Prinzessin und eine Auseinandersetzung mit den rigiden Coronaregeln, die jahrelange Arbeit um die Integration von Familien auf Intensivstationen.in dem Stand der Achtziger zurückschubst.Jede kleinste Ausnahme ein zäher Kampf. Mit echtem Totschlagargument, den Corona wäre in diesem Fall wohl der sivhere Tod gewesen.So viel zusätzlich verschlissenne Kraft
      Der kleinen Prinzessin Leben stand von Anfang bis Ende unter diesem Fluch.

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      • Myriade September 3, 2021 / 11:38 am

        Beim Schreiben ist es wie beim Malen, manchmal ist die Deutung anderer höchst überraschend. Ich hatte gerade vor zwei Tagen so ein Erlebnis. Ich denke, es ist einfach so, dass man ein Werk „freilässt“ für Interpretationen verschiedenster Art und dann Wunderliches und Bedenkenswertes einsammeln kann …
        Corona und Coronaregeln auf einer neonatalen Intensivstation müssen sehr, sehr herausfordernd sein, in verschiedene Richtungen. Ohnehin schwer zu ertragen, wenn ein Leben gleichzeitig so kurz und so schwierig ist …..
        Ich habe in letzter Zeit mehrmals daran gedacht, dass du einmal geschrieben hast, dass du gerne so schreiben könntest wie das Fräulein read on und dass ich immer schon gefunden habe, dass du das allermindestens genauso gut kannst.

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        • fundevogelnest September 3, 2021 / 10:19 pm

          Danke für dein Lob.
          Ach ja, manchmal denke auch ich noch an das Fräulein, wie traurig diese Geschichte doch ist und wie glücklich sie mit ihrem Schreiben auch hätte werden können, wenn die Fiktion hätte Fiktion sein lassen können.
          Und ich frage mich was sie zu Corona geschrieben hätte.

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  3. geschichtenundmeer September 2, 2021 / 6:54 pm

    Wunderschön, und traurig, und fröhlich und… wie das Leben.

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    • fundevogelnest September 3, 2021 / 7:32 am

      Auf die Begegnung mit einem magischen Flusswesen warte ich in meinem Leben noch – ja aber sonst ist das alles recht vorstellbar.

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  4. Wortverdreher September 2, 2021 / 9:12 pm

    Den Satz: Dass du es aushältst ohne Glauben an ein Davor und Danach.
    Finde ich spannend und frage mich, wie es ein solcher Glauben besser machen könnte, da er einen Ort und eine Zeit impliziert, von der wir nicht wissen, ob wir sie erleben werden.
    Aber Rahmen dieses sehr ergreifenden Textes ist die Frage wohl platziert.
    Es ist schwer die Willkür des Lebens zu akzeptieren, aber wir werden es wohl müssen. Alle versuche sie abzuwenden, sind zumindest bisher heftig gescheitert, da muss man sich nur die Nachrichten dieses Jahres anschauen. Aber selbst wenn wir die Willkür akzeptieren könnten, wird es manchmal schwer sein, mit den Folgen zu leben.
    Der Text hat mich sehr berührt, Danke!

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    • fundevogelnest September 3, 2021 / 7:56 am

      Danke für diesen ausführlichen Kommentar.
      Eine wirkliche Antwort weiß ich nicht.
      Es gibt ja zweifelsohne Menschen, deren Glauben an welche Manifestation des Göttlichen auch immer sehr fest ist. Wenn ich überzeugt bin, dass mein Aufenthalt in diesem irdischen Jammertal nur ein vorübergehender ist, ich also „weiß“, dass es diesen anderen Ort, diese andere Zeit geben wird, dass die Seele unstreblich ist, dass es einen übergeordneten Sinn gibt, wenn ich ihn auch noch nicht verstehe, finde ich bei allen Zumutungen darin hoffentlich ! Trost.
      „Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, gelobet sei der Herr“
      Aber das sind Betrachtungen von außen, nicht meine Erfahrungen, ich bin da eher wie meine Ich-Erzählerin, Trost gibt es nur von denen, die das irdische Leben mit mir teilen müssen.

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  5. Doro September 7, 2021 / 7:18 pm

    Mein Gott wie ist das schön traurig und tröstlich zugleich. Es gibt eben doch all die liebens- und lebenswerte Kleinigkeiten die es ausmachen, weiterzumachen. Ich bin sehr berührt und heilfroh, dass Du meine Geschichte gelesen hast und ich neugierig war, wer hinter diesem wundervollen Namen steckt. Hier hast Du mich gerade verzaubert und ich war auch an der Bille, mit all dem Widerwillen für das was die Natur so bietet, so verlockend schien es mir auch. LG Doro

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  6. fundevogelnest September 7, 2021 / 10:15 pm

    Liebe Doro,
    Danke für diesen schönen Kommentar. Der wichtigste Grund weiterzumachen sind doch leztlich die, die wir lieben.Und die Bille ist definitiv ein verlockender und bezaubernder Ort.
    Deine Sommergeschichte hatte für mich auch einen ganz wunderbaren einzigartigen Zauber.
    Der Blogname nimmt Bezug auf unsere Leben als Pflegefamilie.
    Liebe Grüße
    Natalie

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    • Doro September 7, 2021 / 10:24 pm

      Liebe Nathalie, Du hast so recht und ich war schon bei Dir unterwegs und habe geschaut. Es wird nicht das letztemal sein.. LG Doro

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