Packen. Heute ist die Schlafzimmerkommode dran. Wie konnte sich das alles nur ansammeln haben, fragt Isabelle sich erschöpft, alles Zeugs, das sie an irgendetwas erinnert, Zeit verschlingt, Zeit, in der die Ankunft des Umzugslasters unerbittlich näher rückt. Poesiealbum? Behalten. Aber um Himmelswillen nicht hinein schauen. Schulzeugnisse dito,.Verstaubte Osterküken. Durchatmen. Blauer Sack. Läuft richtig gut heute. Noch eine Muschel? Bitte in die Tüte für den zukünftigen Garten.
Keine Muschel, ein Perlmuttdöschen, kleiner als zwei Brühwürfel, achteckig mit silbernen Rändern, zierlich gearbeitet wie alles aus Frau van Santens Haushalt.
Isabelle muss sie nicht öffnen, um zu wissen, darinnen liegt ein kleiner Amethyst auf Watte.
Sie hat keine Zeit wieder dreizehn zu sein und über Tage die Stunden zu zählen, bis sie wieder an der dunkelgrünen Tür klingeln darf, einen selbstgepflückten Blumenstrauß in der Hand. Der Tee steht bereit und erlesene holländische Naschereien. Eine Wohnung wie ein Museum, selbst gemalte Bilder, Ikonen, fein zieseliertes Silber, Kunsthandwerk, Spitzen, Delfter Porzellan, ein Samowar, Orientteppiche statt Tischdecken, was Isabelle besonders beeindruckt. Jedes Teil eine Geschichte.
Frau van Santen besuchen hieß sich in flauschige Herzlichkeit und Geschichten zu hüllen. Erzähltes aus Europas düsterster Zeit, Verfolgung, Verbannung und Mut. Viel Moral tankte Isabelle hier, richtete ihren jugendlichen Kompass aus.
Das erste Mal stolperte sie über das Geburtstagslied, das habe die erwachsene Tochter selbst gedichtet. Es war damals neu, heute ist Zuckowskis Ohrwurm Allgemeingut. Isabel tat es als Irrtum ab. Die Gedichte des „Vaters“, handschriftlich überreicht bekommen und andächtig auswendig gelernt, fand sie erst, als die Geschichte Frau van Santen hinweggespült hatte, in Büchern verschiedener Dichter.
Vielleicht war sie wirklich als Holländerin nach Sibirien verbannt worden. Russisch sprach sie jedenfalls, andere biographische Details scheinen fast unmöglich. Sie war die erste Lügnerin, der Isabelle begegnete, nicht die letzte, die sie lieben lernte.
Das Perlmuttdöschen wird in der neuen Wohnung einen Ehrenplatz bekommen.
Dies‘ ist die letzte Etüdenrunde dieses Jahres, das nicht nur ich unendlich anstrengend fand. Insofern bin ich stolz , dass ich es geschafft habe, fast allen Schreibeinladungen nachzukommen und danke Cristiane für ihren Langmut auch die verspätesten Geschichen noch mit offenen Armen aufzunehmen.
Mir zumindest tut der Etüdenrhythmus gut und fällt eindeutig unter Ressourcen.
Die Wörter für diese Runde – Museum, biographisch und erinnern spendet Heidi passend zu ihrem Blog Erinnerungswerkstatt.
Vielen Dank dafür, vielen Dank für die viele Arbeit Christiane, vielen Dank an alle die Mitschreiben, Lesen und Kommentieren. Die Etüden sind mir — auch bei ernsten und traurigen Texten – ein Quell der Freude!
Am Sonntag beginnt dann der Etüden-Adventskalender und auf den freue ich mich so wie die Fundevögel auf ihre.
Schauen Sie unbedingt bei Christiane rein.
Ich freue mich immer über Likes und Kommentare zu meinen Texten, muss aber darauf hinweisen, dass WordPress.com – ohne dass ich daran etwas ändern könnte — E-Mail und IP-Adresse der Kommentierenden mir mitteilt, die Daten speichert, verarbeitet und an den Spamerkennungsdienst Akismet sendet. Ich selbst nutze die erhobenen Daten nicht (näheres unter Impressum und Datenschutz). Sollte das Löschen eines Kommentars im Nachhinein gewünscht werden, bitte eine Mail an fundevogelnest@posteo.de, meistens werde ich es innerhalb von 48 Stunden schaffen dieser Bitte nachzukommen.
Auch jemand, der sich die Welt und die Biografie so bastelt, wie es ihr gefällt, die Dame. Ich habe mich das damals schon gefragt, als die Geschichte des Fräuleins viral ging, ob und unter welchen Umständen man IMMER die Wahrheit sagen muss. Deine Protagonistin hat sie geliebt und scheint keinen Schaden davongetragen zu haben … 🤔
Weißt du, Natalie, es gibt eine Handvoll Schreiber*innen, auf deren Etüden/Einträge ich mich jedes Mal freue. Du gehörst dazu, und solltest du es nicht gewusst haben, weißt du es jetzt. 😁
Herzliche Abendgrüße 😁☁️🍁🍷🍪👍
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Ich denke Menschen, die sich dramatische Biografien andichten, haben oft eine ganz intensive Sehnsucht nach Trost und gesehen werden. Meine Protagonistin hat keinen Schaden genommen, eher viel gelernt. Doch wie geht es denen, die dieses Leid wirklich durchlebt haben, die erleben, dass es Mittel zum Zweck wird. Es gibt z. B. immer wieder Frauen, die verstorbene Kinder erfinden und das kann für Familien, die wirklich Kinder verloren haben, sehr traumatisierend sein.
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Ich finde nicht, dass man eine erfundene Biographie in die Kategorie „Lügen“ stecken muss. Das wäre nur der Fall, wenn die tatsächliche Biographie anrüchig ist. ansonsten ist es jedes Menschen Recht, sich eine Biografie zu basteln, den Namen und die Vorfahren zu ändern. Eine andere Frage ist, ob man sich mit fremden Federn schmücken oder tatsächliche Personen ins Fiktive hineinweben darf.
Wie auch immer: deine Geschichte gefällt mir wieder sehr.
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„Es ist jedes Menschen Recht sich eine eigene Biographie zu basteln“, den Satz rahme ich mir ein und hänge ihn in mein inneres Museum.
Lügen war hier auch eher beschreibend als richtend gemeint..
Sie sind ja auch faszinierend die Felix Krulls, Gantenbeins und Briefträger, die als gefragte Gynäkologen arbeiten.
Aber gibt es auch ein Recht darauf anderer Mernschen Mitgefühl und Hilfsbereitschaft unnötig zu verschleißen?
Menschen, die manches wirklich überlebt haben zu retraumatisieren?.
Ich urteile nicht, dazu kenn ich den Sog des Erfindens und Erzählens viel zu gut, bin aber sehr dankbar mich frei geschwommen haben zu können.
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Ich finde so Personen ja faszinierend. Man will sie exzentrisch nennen, aber wahrscheinlich sind sie einfach unglücklich.
Schöne Geschichte. 😇
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Faszinierend ist die Schöpfungskraft , bestürzend das miserable Selbstbild, das dahinter steht.
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