Was feiern wir heute genau, fragt unser neuer Mitbewohner, und ich erzähle in jenem seltsamen deutsch-englisch-spanischem Sprachmix, der sich hier als lingua franca einzubürgern droht, was hier los war, als ich so alt war wie er.
Er glaubt mir, dass es eine spannende Zeit war, eine Zeit des Aufbruchs, der Hoffnung auf neue Ideen.
Ich merke, dass ich die große Angst, die ich damals gleichzeitig hatte, nicht vermitteln kann, die Angst vor einem Deutschland, das mit seiner wirtschaftlichen und politischen Stärke nicht gewaltfrei umgehen kann, einem Deutschland , das seinen Hals wieder nicht voll genug bekommen kann.
Ich hätte damals zwei freie Staaten mit offenen Grenzen bevorzugt, ob das im Endeffekt besser oder schlechter oder überhaupt möglich gewesen wäre – wer kann das im Nachhinein mit Sicherheit sagen.
Dass es eine sehr, sehr schlechte Idee gewesen wäre, den Tag des Mauerfalls zum Nationalfeiertag zu erheben, ist mit dem Verweis auf 1938 auch jemanden, der nicht hier aufgewachsen ist, schlüssig zu erklären.
Der Jahrestag der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 machte also das Rennen. Irgendwann im August oder September 1991 fragte mich die von dieser dienstplantechnischen Herausforderung gestresste Stationsschwester: Brauchst du frei am Feiertag?
Feiertag?
Nö, lass man, ich brauch das nicht feiern , ich kann arbeiten.
Andere feierten diese Nacht, in der ich vermutlich früh im Bett lag.
Bertold Brecht schrieb: Fruchtbar ist er noch, der Schoß aus dem ein solches kroch.
Denn sie feierten nicht nur mit viel zu viel Alkohol, sie fanden es angebracht einen Molotowcocktail durch das Fenster einer Flüchtlingsunterkunft zu werfen.
Sie haben ihre Strafen längst abgesessen, was aus ihnen danach geworden ist, weiß ich nicht. Die, die auf der anderen Seite der Scheibe schliefen, schlagen sich vermutlich immer noch auf die eine oder andereWeise mit den Folgen dieser Einheitsfeier herum, aber genaueres weiß ich auch in diesem Fall nicht.
Unserer normales Klientel sind Kleinkinder, über die sich brodelnde Heißwasserkocher oder frisch gebrühter Kaffee ergossen haben, brennendes Benzin hinterlässt deutlich andere Spuren.
Aber das war es nicht was ich lernte, an jenem Tag, an dem ich nicht frei haben wollte.
Ich lernte dass ich auch mit meinem vor Aufregung piepsenden Stimmchen Bildzeitung und Morgenpost in die Flucht schlagen kann, dass es aber keinen Ausweg aus der Nummer gab, einen Ministerpräsidenten in hygienische Klamotten zu stopfen,und ihn dahin zu lassen, wo außer den Eltern sonst keine Angehörigen hindüften bzw. damals hindurften.
Wir lernten eine irrwitzige Menge von Kuscheltiere, Barbiepuppen und anderen von Leuten, die ihr Unbehagen nicht aushalten konnten, gekaufter Geschenke irgendwie zu verstauen und zu verwalten, wir lernten auch wie skrupellos Eltern das Leid ihres Kindes verschachern können.
An diesem irrwitzigen Oktobertag zeigte Deutschland seine scheußlichste Fratze.
Und auch 31 Jahre später ist er fruchtbar noch, der Schoß ausdem ein solches kroch.
Noch immer kein Feiertag für mich.
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Eine so ganz andere Sicht auf die Dinge…
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Es ist halt die persönliche Erfahrung, die die kollektive übermalt. Natürlich ist es wunderbar, dass es keinen Todesstreifen und keine Selbstschussanlagen mehr gibt, dass niemand mehr bis zur Rente warten muss, um einen geliebten Menschen vielleicht besuchen zu dürfen, von den vielen Menschenrechtsverletzungen des SED-Staats gar nicht zu reden , keine Stasi mehr …
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Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch
Diese Zeilen haben sich als Kind bei mir eingebrannt.
Ich kann deine Sicht der Dinge gut verstehen. Obwohl ich mich dem Land entzogen habe, habe ich gehofft dass es damals eine Chance für einen realen Aufbruch gegeben habe.
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Ja, so viel Hoffnung auf ein ganz neues Land, errungen ohne Gewalt …Am Ende waren die meisten Versprechungen nicht eingelöst.
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Ich hatte mir damals auch zwei offene Staaten gewünscht – und war entsetzt, als ich sah (nicht wirklich verstand), was daraus wurde. Ja, wir konnten unsere Verwandten jetzt problemlos besuchen (und sie uns), aber sonst? Nach der Feierlichkeit, die eigentlich beschworen wird, war mir seltenst zumute. 🌻☕🍃
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Feierlich war und ist mit oft da zu Mute , wo die Grenze offensichtlich weg ist,zB am Bahnhof Friedrichstraße oder wasmich sehr bewegte von der halben Dömitzer Brückraus plötzlich Menschen auf Dresdnerin Seite winken zu sehen
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Die Verdammnis der Ewigwachen.
Lonely, auch not at the top, aber immer verzweifelt.
Schicksal halt.
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Nun ja durchgehend verzweifelt bin ich am 3. 10. nicht🙂
Entweder arbeite ich oder genieße den freien Tag, gestern waren wir Tretboot fahren, da ist nur der kleine Fundevogelverzweifelt, weil er nicht durchgehend lenken durfte.
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Mir war auch schummerig, als Deutschland auf einmal wieder die weitaus größten Nation in Europa war und mit seiner puren Größe alle anderen an die Wand zu spielen drohte. Ein Wiedererwachen des alten Nazigeistes befürchtete ich allerdings nicht.
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Ich glaube mein Unbehagen war ziemlich undifferenziert damals.
Hier im Quartier gab es damals eine recht aktive Skinheadszene, und ihr gefühltes Oberwasser war beängstigend.
Und es gab ja wirklich sehr viele sehr grausame rechtsextreme Anschläge nach der Wende, wobei die Rechten heute viel besser und effektiver strukturiert sind.
Ich behaupte aber nicht das vorausgesehen zu haben.
Das Freudige, das Konstruktive das rutschte viel zu schnell weg-
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Ich weiß noch, wie ich damals mit meinem Vater über einen Artikel von Heleno Saña gestritten habe. Saña äußerte sein Unbehagen angesichts der Wiedervereinigung, aus nachvollziehbaren Gründen. Ich stimmte ihm zu, mein Vater aber war zutiefst beleidigt. Manchmal frage ich mich, was mein Vater heute zu seinem ehemaligen Chef Gauland sagen würde, zur AfD und zu dem Weg, den ein Teil der deutschen Bevölkerung eingeschlagen hat.
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Jetzt habe ich erst mal neugierig nachgelesen, was Herr Gauland so gearbeitet hat, dass man ihn zum Chef haben konnte.
Heleno Sana kannte ich auch nicht. Interessant-
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