Nach langem Zaudern und Zögern habe ich mich vor rund zwanzig Monaten entschlossen im Koboldkrieg zu chemischen Waffen zu greifen, sprich dem Kleinen Fundevogel Medikamente zu verabreichen, die in tief den Hirnstoffwechsel eingreifen.
Das hört sich nicht nur gruselig an, es sind auch gruselige Sachen passiert.
Nur ohne wurde es auch zunehmend gruselig, wir haben vieles, vieles gegen die Kobolde unternommen, mit Umsicht, Geschick und therapeutischer Hilfe und ja auch mit diesem und jenem Nahrungsergänzungs- oder homöopathischen Mittelchen.
Ich war und bin bereit, eine ganze Menge auszuhalten, aber immer banger wurde die Frage, was mach ich, wenn der Kleine Fundevogel stärker sein wird als ich, wenn ich ihn nicht mehr liebevoll und resolut unter den Arm klemmen kann und die Kobolde so in ihre Schranken verweisen kann. Wenn die Sache richtig gefährlich zu werden droht, für ihn, für mich, für andere.
Unkontrolliert in den Verkehr oder vom Balkon geworfene Gegenstände sind potentiell lebensbedrohlich.
Ein Kind, das ohne rechts und links zu schauen losrennt und nur noch an den nächsten zu erreichenden ICE denkt, liegt unter Umständen schneller unter einem Auto als dass es im Zug sitzt, wo ich es bislang immer wohlbehalten wieder abholen konnte.
Da fingen sie an zu winken, die, die mit ihren Transprarenten mit den Aufschriften „Spezialeinrichtung“ und „Intensivwohngruppe“ schon länger am Rande gelauert hatten.
Und ?, lautete die rhetorische Frage, derer die Erfahrung mit diesen Dingen haben: Was glaubst du wohl, geben Sie ihm in einer Wohngruppe als erstes?
Dann übernehme ich lieber selbst die Verantwortung und zunehmend stellte ich mir auch die Frage: Wenn ich es auch aushalten kann, wie attraktiv ist dieses Leben für den Kleinen Fundevogel selbst? Aus Sicherheitsgrünen nie alleine runstromern dürfen, nicht allein mit dem Fahrrad zum Bäcker fahren dürfen, keine Freundschaften halten können, nie zum Kindergeburtstag eingeladen werden und auch bei Erwachseneneinladungen mitzubekommen, dass man ihn lieber nicht mitgebracht werden möge.
Die Einschulung stand kurz bevor, niemand konnte sich vorstellen, dass dieses Kind wie auch immer beschulbar sein könnte, trotz durchaus vorhandener Intelligenz.
Er selbst konnte sich gut vorstellen eine Koboldmedizin zu nehmen, befreundete Pflegeeltern und Leserinnen dieses Blogs ermutigten freundlich zu diesem Versuch.
Man liest ja oft, Medikamente gegen ADHS würden gar zu leichtfertig und infltionär verschrieben. Unsere Arzt machte es gründlich, ein EEG vorweg, eine sehr umfassende Blutuntersuchung, um auszuschließen dass nicht doch irgendeine heimliche Stoffwechselerkrankung hinter dem Spuk steht.
Eine Untersuchung bei einer sehr netten Kinderkardiologin folgte, denn es sind schon Kinder mit unerkannten Herzerkrankungen an Ritalin und Co verstorben. Der Kleine Fundevogel verfolgt gebannt die Ultraschalluntersuchung: Boh, ist mein Herz schwarz?
Meines zieht sich bei diesen Worten zusammen. Nein rosig-rot, lacht die Kardiologin, und kerngesund, gegen eine Stimulanzientherapie sprich nichts.
Ich fand noch immer, dass eine Menge dagegen spricht, unter anderem das Gefühl erziehend versagt zu haben und schon hielten wir das erste Rezept für ein methylphenydathaltiges Medikament in der Hand.
Methylphenidat wurde 1944 zuerst von dem Chemiker Leandro Panizzon synthetisiert, er und seine Frau Rita probierten es wie damals üblich am eigenen Leibe aus. Rita war der Legende nach schlichtweg begeistert wie hochkonzentriert und erfolgreich sie unter der Wirkung dieses Mittels Tennis spielen konnte und der berüchtigte Markenname Ritalin®war geboren.
Es handelt sich also defintiv nicht um ein Beruhigungsmittel sondern um ein Medikament, um die Konzentration zu erhöhen und so den Menschen mit ADHS zu ermöglichen nicht verzweifelt um sich zu schlagen, in einem Hagelsturm ununterbrochen auf sie einprasselnder Wahrnehmungen. Oder – die Variante gibt es auch – sich teilnahmslos zu verkriechen.
Wer sich für die genaue Wirkungsweise interessiert– Dopamintransport und sowas steckt dahinter- den verweise ich freundlich auf die einschlägigen Websites, denn ich verirre mich bei jedem Erklärungsversuch hoffnungslos.
Mein Neffe hat mir jedenfalls erzählt, dass Abiturienten an seiner Schule sich mit dem Zeugs für Prüfungen dopen. Durchaus erfolgreich wohl, die Liste der Nebenwirkungen lesen sie vermutlich nicht.
Es gibt immer auch wieder Geschichten und zwar nicht auf den Websites der Pharmaindustrie von Kindern, die ihre erste Tablette Methylphenidat einnehmen und nachmittags ruft die Lehrerin an und fragt verblüfft, wieso das Kind auf einmal so anders sei, im positiven Sinne anders, Kinder, die auch selbst begeistert sind.
Der Kleine Fundevogel hatte eher die Variante wenig Wirkung, viel Nebenwirkung.
Die typischen Nebenwirkungen Appetitlosigkeit und Einschlafschwierigkeiten stellten sich sofort ein, die Wirkung dagegen war für mein Gefühl am Anfang gleich Null.
Versuch gescheitert, dacht ich, ich wusste ja noch nicht, wieviele unterschiedlich wirkende Dareichungsformen es von Methylphenidat gibt, da muss man erst mal das Richtige finden, meinte der Arzt unternehmungslustig. Der Stapel kaum angebrochener unter das Betäubumgsmittelgesetz fallender Medikamente in meinem Badezimmerschrank wuchs, von einem Präparat –ich glaube es war Equasym® – wurde das Kindchen so aggressiv, dass es ihm selbst unheimlich wurde.
Schließlich landeten wir bei Kinecteen® und hier hielten sich die Nebenwirkungen in Grenzen. Über die Wirkung sind der Arzt und ich uns nie ganz einig geworden.
In seinen Tests war der Kleine Fundevogel deutlich konzentrierter, nur half das weder gegen die grenzenlosen Wutanfälle noch gegen die Pestilenz des Weglaufens und die Schule kam mit dem Kind von vorn bis hinten nicht zurecht, er war in so viele Konflikte verwickelt, dass etwaige Konzentrationshöchstleistungen gar nicht gewürdigt werden konnten.
Und ab 17 Uhr schlug der gefürchtete Rebound zu, das Nachlassen der Wirkung mit allabendlichen Kontrollverlust. Fragen Sie die Leute in der Wohnung unter uns.
Nun gegen alles gibt es keine Medikamente.
Das Jugendamt mahnte dringend damit fortzufahren und diese Institution hat schon eine gewisse Macht in unserem Dasein. Nicht, dass es am Ende heißt, die Pflegemutter kooperiert nicht.Trotzdem bin ich rückblickend der Meinung, ich hätte früher Stop!sagen sollen.
Aber in den Sommerferien , da soll der Körper sich mal eine Pause von dem Zeug gönnen dürfen.
Ganz ehrlich, ich hatte Angst davor, ein noch überdrehteres Vögelein über 24 Stunden lange Ferientage um mich zu haben.
Der einzig Effekt war, dass das Kind fast drei Stunden mehr pro Tag schlief. Und selbst hocherfreut darüber war ich kann so gut schlafen. Also wenn das ein Achtjähriger sagt – Mail an der Arzt: Nix Methylphenidat mehr.
Nur das Weglaufen, die Wutanfälle, die Drohung der Schule den Vertrag zu kündigen – das war ja alles weder weg, noch bisher auf pädagogischem oder therapeutischen Weg zu behandeln.
Also flatterte das nächste Rezept ins Haus Elvanse®, Lisdexamfetamin, verwandt mit dem, was sich andere auf dem Schwarzmarkt holen, um die Wochenenden im Berghain durchtanzen zu können.
Wenig vertrauenserweckend.
Dass der Pflegesohn einer Freundin damit seit Jahren gut klar kommt, ermutigte schon eher.
Der Start ist erfolgsversprechend, der Kleine Fundevogel kann sich auf einmal die Zähne putzen, also Zahnbürste in den Mund, alles in dem seit Jahren geübten Schema nacheinander abbürsten, Ausspülen. Fertig. Einfach so. Ohne irgendwelche Zwischenfälle.
Ich bin entzückt.
Nur leider macht es den Eindruck, er könne nun auch ein Wochenende im Berghain durchtanzen oder eben auf den Köpfen unserer Nachbarn.
Am dritten Tag läuft er vom Bauspielplatz weg und schafft es den Intercity nach Rostock zu erwischen. Ohne die Erzieherin des Bauspielpatzes hätte er die Nacht nicht in einem Rostocker Kinderheim schlafen müssen, sie hat uns im Auto gefahren, mit dem Zug wäre das an dem Tag nicht mehr zu machen gewesen. Aber der heißgeliebte Bauspielplatz übernimmt die Verantwortung für ihn nun nicht mehr. Wieder etwas zerstoben.
Am nächsten Morgen war der erste Schultag und ich schickte ihn vielleicht etwas kaltherzig nach fünf Stunden Schlaf zur Schule, ich brauchte einfach eine Pause.
Abends würde er dann wohl müde sein.
Stattdessen passierte das Schlimmste in acht Jahren Zusammenleben mit dem Fundevogel überhaupt, er lief nachts weg, den Wohnungsschlüssel hatte er aus der Tasche seiner Schwaster gnommen.
Ich glaube so die Fassung verloren, wie in dem Moment, in dem ich die offen stehende Wohnungstür gesehen habe, war ich noch nie.
Beruhigen Sie sich, sagt die Polizistin, so nimmt den doch kein Bus mit.
Was soll daran bitte beruhigend sein ? Wenn er nicht im Bus sitzt, liegt er doch mindestens halb zu Tode geqäult unter irgendeinem Gebüsch.
Nun ja.
Barfuß, in Boxershorts und einem überdimensionierten Batikshirt ist er völlig unbehelligt zum Hauptbahnhof gefahren, nur einer habe ihm gesagt, es sei nicht gut barfuß U-Bahn zu fahren , da könnten Scherben liegen.
Fällt einem sonst nix ein, wenn man um 23 Uhr ein unbegleitetes Kind mehr oder weniger in Unterwäsche trifft?
Ich hatte ja den Schlüssel in der Hand, da wussten alle, ich darf das.
Eh sich hier ein Lamento über das Desinteresse der Gesellschaft erhebt – hier hat die halbe Nachbarschaft jeden Bumentopf umgedreht, auch viele, die ich gar nicht kannte.
Bevor der Kleine Fundevogel wieder irgendeinen ICE entern konnte, ist er zum Glück einem Securitymann am Hauptbahnhof in die Arme gelaufen und die Polizistin konnte aufhören mir die Notfallseelsorge andrehen zu wollen.
Nach man wieder gerade fünf Stunden Schlaf und keinem Krümelchen von diesem Lisdexateufelszeug hat er komplett den Verstand verloren, über Stunden mit Holzspielzeug um sich geworfen, vorsätzlich erbrochen, es gab keinem Zugang mehr zu ihm.
Als ich kurz davor war, einen Krankenwagen zu rufen, ist es mir gelungen ihn mit Mausfilmchen auf dem Handy zu beruhigen und ihn dann mit vorgehaltenem Handy zum Laptop zu locken, wo er dann in sechs Stunden Maus und Elefant in Dauerschleife abgewartet hat, dass das Medikament den Körper verlässt, vor der Glotze gab es eine Portion Kartoffeln mit Zucker und Zimt. Ich war froh drum.
Das Handy brauchte ich selbst zum Dauertelefonieren.
Der Arzt ist ehrlich schockiert, verschreibt aber noch für den selben Tag das nächste Medikament.
Intuniv, das kennst du, sagt er, er darf mich duzen , weil wir viele Jahre auf der selben Intensivstation gearbeitet haben. Das ist mit dem Clonidin verwandt.
Also nun doch etwas Sedierendes?
Der Körper gewöhnt sich daran. Es hilft mehr gegen die Impulsivität, das wolltest du immer, man darf es aber nur geben, wenn die Stimulanzientherapie versagt hat.
Hat sie wohl.
Ich trau mich nicht das Haus zu verlassen. Meine Cousine, ohne die ich wahrscheinlich längst verdampft wäre, holt das Rezept, holt das Medikament.
Trotzdem bin ich im Rückblick erstaunt, dass ich mich an dem Tag drauf eingelassen habe, ich glaube ich hatte mich innerlich einfach ergeben.
Der Kleine Fundevogel schlief 14 Stunden, ich zehn.
Und dann?
Ja dieses Zeug wirkt, nicht sensationell, aber im Gegensatz zu früher haben meine mühsam einstudierten Deeskalationsstrategien inzwischen Erfolg, nicht immer, aber oft.
Die Schule scheint allerdings noch nichts davon gemerkt zu haben.
Er schläft und isst normal.
Er meint das Medikament helfe ihm.
In den letzen zwei Wochen lässt die Wirkung merklich nach.
Es gab wieder einen wirklich Has-und Igel würdigen Trip nach Berlin.
Es gibt noch immer keinen Platz für eine Verhaltenstherapie.
Er nimmt allerdings noch nicht die Menge, die für sein Gewicht angemessen wäre und das Gewicht ist auch noch etwas mehr geworden.
Wieder Zeit den Arzt anzurufen.
Mehr? Wieder was anders? Oder doch lieber endlich nichts?
Wenn mir einer noch einmal erzählt, Eltern machten sich das Leben mit ADHS Medikamenten leicht.
Ich freue mich immer über Likes und Kommentare zu meinen Texten, muss aber darauf hinweisen, dass WordPress.com – ohne dass ich daran etwas ändern könnte — E-Mail und IP-Adresse der Kommentierenden mir mitteilt, die Daten speichert, verarbeitet und an den Spamerkennungsdienst Akismet sendet. Ich selbst nutze die erhobenen Daten nicht (näheres unter Impressum und Datenschutz). Sollte das Löschen eines Kommentars im Nachhinein gewünscht werden, bitte eine Mail an fundevogelnest@posteo.de, meistens werde ich es innerhalb von 48 Stunden schaffen dieser Bitte nachzukommen.
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Danke für diesen Beitrag.
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Freut mich in irgendeiner Art für dich wertvolle Worte gefunden zu haben.
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Es ist schwer, hier „mal eben“ auch nur irgendetwas dazu zu schreiben. Alles klingt banal und künstlich angesichts dessen, was ihr beide da täglich stemmen müsst und der immensen Verantwortung, die mit jedem Schritt, jedem Lösungsversuch einhergeht.
Lass mich dir und dem kleinen Fundevogel viel Kraft wünschen. Fühl dich umarmt.
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Danke dir, mir war einfach wichtig, das oft empfohlene „Tablette rein – dann wird alles besser“ zu relativieren.
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Mein Gott.
Ich kann in den Krieg ziehen und andere Soldaten töten.
Ich kann Blutungen stillen und Kugelwunden notoperieren.
Doch den psychischen Druck dem du über Jahre ausgesetzt bist, würde ich keinen Monat lang aushalten können.
Frauen sind ganz offensichtlich das stärkere Geschlecht.
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Auch viele (Pflege-)väter kennen und ertragen solchen Druck, da bin ich gewiss.
Blut habe ich auch genug gesehen, auch viel davon, der Stress ist m.E. nicht vergleichbar, nicht weniger, nicht mehr, nicht harmloser oder schlimmer, sondern komplett was anderes.
Getötet habe ich bis jetzt nichts größeres als einen Hahn und so soll das auch bleiben.
Und du kämpfst jetzt in der Ukraine oder wie sind deine Worte zu verstehen
Seltsame Frage so ins Internet gestellt, kannst du auch zu schweigen.
Alles Gute auf jeden Fall.
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Ich weiß ja, was du meinst. Aber zwischen aushalten können und müssen gibt es Unterschiede. Beziehungen zerbrechen doch oft, wenn ein Kind behindert ist und Faktum ist, daß meist der Mann diese verläßt in einem solchen Fall. Biologisch gesehen richtig geregelt ist, daß die Mutter bleibt; und zum Glück ist es nicht zwingend, daß dieser Fall eintritt wie von mir gezeichnet – auch ich kenne positive Beispiele und sogar solche, wo die Mutter das Kind beim Vater zurückläßt und der freut sich darüber (allerdings nur ein einziges).
Ich bin zu alt zum Kämpfen an einer Front. Ich mache mich lieber in der Etappe nützlich oder in einer, die gerade dazu gemacht wurde. Diesmal habe ich u. A. Behelfe für Tracheotomie-Genesene und dazu passende Flüssignahrung mit.
Und Decken, Handschuhe, Schals, Socken, Pullover, Mützen, Jacken/Mäntel und Kocher für die Ratten, die unter ihren zerschossenen Häusern in den Kellern wohnen – und einen Generator, mit dem man Licht machen und Hendis laden oder eine elektrische Mini-Heizung betreiben kann…
Danke für die Guten Wünsche 😉 …
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