Für Ulli Gaus Alltags-Projekt: Aus dem Nestalltag (3)

Das spannende Projekt „Alltag“ wird fortgesetzt. Wieder ist bei Ulli Gau im Café Weltenall ein buntes Kaleidoskop von Texten eingetrudelt, die zeigen, wie verschieden Alltag doch sein kann.

Auch ich setze meine Nestalltagsreihe gern fort.

Weil hier letze Woche alle krank waren, ich dieses Wochenende arbeiten muss und die Fundevogelkonfirmation am nächsten Wochenende ihre Schatten voraus wirft, habe ich es mir diesmal einfach gemacht und auf einen alten Text von mir zurückgegriffen. Er erschien erstmalig  im 2.Quartal 2016 unter dem – wie ich fand – nicht sehr gelungenen Titel Hausbesuch von der Großfamilie im Hamburger Blickpunkt Pflegekinder, für den ich manchmal ehrenamtlich schreibe, ich habe ihn leicht überarbeitet.

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Sprechen Sie deutsch?“, sagt der Arzt zur Begrüßung und ich und glotze ihn verdattert an. Er erwidert meinen Blick nicht, er hat mich noch gar nicht gesehen, er starrt auf seinen Computerbildschirm, genauer gesagt wohl auf den türkischen Nachnamen meiner Pflegetochter.

Wirst du oft gefragt, ob du deutsch sprichst?“, frage ich Deniz (Name geändert) auf dem Nachhauseweg, denn für mich war diese Frage Premiere. Sie bejaht gleichgültig, „und wenn mich einer fragt, woher ich komme, sage ich aus Hamburg, aber nicht aus welchem Stadtteil, denn das geht die nichts an.“

Als sie jünger war, lautete die Standardfrage an der Supermarktkasse oder an der Fußgängerampel:

Wo kommt IHR Mann denn her?“

Was antwortet man da auf die Schnelle?

Ach wissen Sie, ich bin die ledige Pflegemutter dieses reizenden Kindes, dessen Mutter Türkin ist“?

Dann hätten wir noch lange an der Ampel gestanden.

Also: „Das geht sie GAR NICHTS an!“ Klingt unhöflich, kann man aber höflich verpacken, falls höflich gefragt wird.

Wer uns näher kennt, kann natürlich fragen. Aber vielleicht nicht gleich beim ersten Blick auf das Kind und dann bitte die Antwort nicht infrage stellen, also türkisch sieht die nun wirklich nicht aus, als hätte ich mir bei Ebay eine Fälschung andrehen lassen.

Geschichten wie in der Arztpraxis, die auch sonst unmöglich war, sind mir in zwölf Jahren Zusammenleben mit meiner türkischstämmigen Pflegetochter selten passiert, wir leben in einem Großstadtquartier, in dem ausländische und binationale Familien nichts außergewöhnliches sind. Aber die Frage, wie das Leben mit einem türkischen Kind so ist, die wird erstaunlich oft gestellt.

Und manche Fragende haben auch schon fertige Antworten im Kopf, Antworten voller Kopftücher, Schweinefleischverbot, blutigen Familienfehden und Djihad.

Vieles wollte der Pflegeelternberater wissen, damals, als ich Deniz noch gar nicht kannte. Unter anderem fragte er, ob ich mir ein ausländisches Kind vorstellen könnte, ein dunkelhäutiges vielleicht sogar? Ich fand diese Frage ausgesprochen blöd, geradezu beleidigend. Sah ich aus wie eine, die sich ihre Kinder farblich passend zur Wohnzimmereinrichtung aussucht?

Habe ich das geantwortet? Oder nur gedacht? Ich weiß es nicht mehr.

Ich konnte es mir auf jeden Fall vorstellen. Das betonte ich auch gegenüber der Kollegin, die fragte: Musst du dann jedes Kind nehmen, auch so ein ausländisches?

Monate später der Anruf: „Deniz, drei Jahre, Mutter Türkin, vermutlich enge Kontakte zur Herkunftsfamilie“.

Cool sagte ich zu – und es öffneten sich Schubladen in meinem Kopf, die ich vorher nie bemerkt hatte: Eine türkische Großfamilie? Was für Schubladen hatten „die“ für ledige, etwas alternative Pflegemütter? Würden die etwa…? Wenn sie nun …und durch die Medien geisterte gerade die Geschichte eines von der Herkunftsfamilie entführten türkischstämmigen Pflegekindes. Grusel.

Kurz danach ein weiterer Anruf, alles abgeblasen, Kind zieht zur Tante. Kein Grund zum Gruseln mehr – und ich war total enttäuscht. Dann wieder ein Anruf, die Mutter entscheidet sich gegen die Tante, für eine Fremde, also für mich.

Die Familie nahm rasch Kontakt auf.

Zu einem die leibliche Mutter, in der Beziehung zu ihr habe ich die verschiedene Herkunft nie als Thema wahrgenommen, der Kontakt wird durch andere Faktoren kompliziert, die hier nichts zur Sache tun.

Die Mutter hat zahlreiche Geschwister, einige leben in Hamburg, andere in der Türkei. Das Hin und Her, ob Tante, ob Pflegefamilie stimmte ganz gut auf die Dynamik dieser Familie ein. Jahrelang war Deniz. das einzige Bindeglied zwischen ihrer Mutter und dem Rest der Familie, der Kontakt zum Kind heftigst einforderte,

Vor dem ersten Besuch bei uns putzte ich wie eine Gestörte. Statt der angekündigten zwei erschienen acht Personen. Ich hätte die Tür am liebsten wieder zugemacht. Wir gingen betont höflich miteinander um, mit jener angespannten, gewappneten Höflichkeit, die man hat, wenn man das Schlimmste erwartet.

Schon an diesem Tag begann ein langsames Abrüsten. Wir konnten miteinander reden! Sie erkannten an, dass ich gut für das Kind sorge, ihm an nichts fehlt. Ich konnte verstehen,dass sie die Nichte nicht aus den Augen verlieren wollten. Lange habe ich Kontakte nur in meiner Gegenwart zugelassen, fand das Kind für Besuche alleine, gar mit Übernachtung, zu klein, was auf ziemliches Unverständnis stieß, sie waren doch Familie.

Zum Glück fanden eine Tante und ich rasch einen guten Draht zueinander, konnten vieles „unter Müttern“ klären. Und als Deniz selbst Lust bekam, dort zu übernachten, durfte sie es auch. Meist gefiel es ihr, sie wurde recht verwöhnt und bekam nebenbei einen realistischen Blick auf ihre Angehörigen.

Eine Zeit lang habe ich mich intensiv bemüht, A. ihre kulturelle Identität näher zu bringen. Ich hatte gelernt, dass das bei entwurzelten Kindern enorm wichtig sei. Deniz hält das für komplett unnötig. Sie ruft ihre leibliche Mutter türkisch anne, mehr türkisch hat sie nie gelernt, ein türkisches Sonderzeichen in ihrem Namen nervt sie. Infos über die Türkei bekommt sie vielleicht von ihrer Familie, von mir will sie sie ausdrücklich nicht. Interesse ins Heimatland ihrer Mutter zu reisen, hat sie nie geäußert.

Die konvertierte Mutter einer Mitschülerin versorgte mich mit kindgerechten Materialien über den Islam. Ich fand das interessant, das Kind nicht. Also bat ich die Tante, das Kind mal mit in die Moschee zu nehmen. Sie meinte zögerlich: „Na, wenn das so wichtig ist, können wir ja mal …“

So hätte ich auch reagiert, wenn jemand mich gebeten hätte, sein Kind mit in den Sonntagsgottesdienst zu nehmen. Trotzdem war ich davon ausgegangen, dass alle Moslems ihren Glauben praktizieren. Immer noch Schubladen im Kopf.

Das Kind besuchte schließlich mit der Grundschulklasse eine Moschee, hinterher äußerte es den dringenden Wunsch nach einem bestimmten sehr süßen, intensiv grüngefärbten Tee, den wir dank der Tanten auftreiben konnten. Und ihr erstes Handy bekam Deniz, als sie mit ihrer Familie das Zuckerfest feierte, das war natürlich cool.

Möglicherweise hat der beiderseitige wurschtige Umgang mit religiösen Dingen zu dem entspannten Verhältnis zwischen unseren Familien beigetragen. Ebenfalls entlastend ist, dass Deniz‘ abwesender Vater ihr durch Anerkennung der Vaterschaft die deutsche Staatsangehörigkeit vermacht hat.

Ausländerbehörde, Bangen um den Aufenthaltsstatus und Reisebeschränkungen blieben uns erspart, wie übrigens auch die prophezeiten Kopftuch-Schweinefleisch- Dschihad- Debatten im eigenen Haus.

Manchmal mache ich mir Sorgen um Deniz‘ Zukunft, falls die antimuslimischen Tendenzen in Deutschland weiter zunehmen sollten. Unterscheiden Islamhasser zwischen echten Islamisten und Menschen, die Moscheen nur mit einem überzuckerten Getränk verbinden?

Echter Grusel.

Deniz zerbricht sich über solche Dinge nicht den Kopf. Anderes ist ihr wichtiger, z.B. ihr kleiner Pflegebruder, der Blondschopf lebt seit knapp zwei Jahren bei uns und die neue Standardfrage lautet „die haben aber nicht den selben Vater, oder?“


Ziemlilich genau drei Jahre sind seit diesem Text verstrichen. Und ich finde, das Klima ist rauer geworden. Falls „Deniz“ direkten rassistischen Angriffen ausgesetzt sein sollte, verschweigt sie es. Aber Äußerungen, die ich früher irgendwelchen verschrobenen Ewiggestrigen zugeordnet hätten, fallen häufiger im näheren Umfeld, „meiner Tochter habe ich gesagt, sie kommt mir nicht mit einem Ausländer nach Hause“…

Ich freue mich immer über Likes und Kommentare zu meinen Texten, muss aber darauf hinweisen, dass WordPress.com – ohne dass ich daran etwas ändern könnte — E-Mail und IP-Adresse der Kommentierenden mir mitteilt und die Daten speichert und verarbeitet. Ich selbst nutze die so erhobenen Daten nicht (näheres unter Impressum und Datenschutz). Sollte das Löschen eines Kommentars im Nachhinein gewünscht werden, bitte eine Mail an fundevogelnest@posteo.de, meistens werde ich es innerhalb von 48 Stunden schaffen dieser Bitte nachzukommen.

8 Gedanken zu “Für Ulli Gaus Alltags-Projekt: Aus dem Nestalltag (3)

  1. Ulli April 5, 2019 / 9:21 pm

    Seit über zehn Jahren wurde viel getan, dass Islamistenhass fast so en Vogue geworden ist, wie einst es der Judenhass gewesen ist. Ich finde diese Entwicklung sehr bedenklich. Leider schüren Medien, die Wahl der Bilder und der Sprache das Ganze. Ich hoffe ja inständig, dass sich das Ganze dreht und diese Hoffnung schenkt mir die heutige Jugend, die mit vielem, was uns und älteren Menschen Kopf- und Bauchschmerzen macht, vollkommen unbedarft umgeht. Mögen internationale Freundschaften und Begegnungen immer mehr zu unserem Alltag gehören, sodass irgendwann niemand mehr auf die doofe Frage kommt, wessen Vater denn nun und wo und was und wie überhaupt …
    Hab herzlichen Dank für deinen Beitrag. In dieser Runde bist du nicht die einzige, die das Thema Ausgrenzung, Vorurteile in die Alltagsrunde trägt. Es ist zu wichtig, um nicht auch hier einen Platz zu finden.
    Liebe Grüße
    Ulli

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    • fundevogelnest April 9, 2019 / 11:31 pm

      Der wirkliche Hass hat zum Glück noch nicht an diese Tür geklopft.
      Die Kleinigkeiten verwirren, diese beharrliche Fragerei nach der Herkunft, von Leuten (wiederum selbst jeglicher Nationalität) zu denen keine Beziehung besteht, das Herbeireden von Problemen, die nicht bestehen .. Es gibt aber auch tatsächlich islamistische Belästigung. Das Kind und einhalbafghanischer Freund waren viel zusammen unterwegs herum und wurden von Fremden streng, manchmal körperlich übergriffig zur Frömmigkeit, zum Besuch der Moschee ermahnt.
      Einmal sind die damals vielleicht Vierzehnjährigen so angegangen worden, dass ich den Vorfall zur Anzeige gebracht habe.
      Liebe Grüße
      Natalie

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  2. Myriade April 6, 2019 / 11:20 pm

    Schön, dass dieser Familienkontakt so gut klappt, könnte auch ganz anders sein.

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    • fundevogelnest April 9, 2019 / 11:15 pm

      Oh, ja das könnte es!
      Die Beziehungen zwischen Pflegefamilien und den leiblichen Familien der Pflegekinder sind demVernehmen nach für fast jeden zwischenmenschlichen Abgrund gut.

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      • Myriade April 9, 2019 / 11:34 pm

        Das kann ich mir vorstellen. Da stecken so viele Emotionen und Kränkungen dahinter ….

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